Deutschland GmbH


Reisebericht 24.9.-3.10.97


Hartwig Thomas



Ein paar Monate nach der Wende im Frühjahr 1990 habe ich zum letzten Mal eine längere Deutschlandreise gemacht und in einem privat zirkulierten Reisebericht „Deutsches Neuland“ darüber berichtet. Diesmal liegt kein so spekatulärer Anlass vor, dass ich es für nötig hielte, meine private Sicht der Verhältnisse einem grösseren Kreis von Bekannten mitzuteilen. Auch sind die Eindrücke der diesjährigen Reise nicht gleichermassen im Widerspruch zur veröffentlichten Meinung. Dies wird wohl auch eine Folge der heute in Deutschland weniger scharf definierten Befindlichkeit sein. Dass ich mich trotzdem dem Aufwand unterziehe, meine Reiseeindrücke festzuhalten, hat einerseits damit zu tun, dass ich momentan immer noch relativ viel freie Zeit habe, andererseits diente mir die Reise zur privaten Klärung einiger Themen, die mich beschäftigen. Insofern handelt es sich um einen eher privaten Reisebericht.


Mittwoch, 24.9.97 Clausthal-Zellerfeld

Ich hatte mir schon seit Längerem vorgenommen, meinen Geburtsort aufzusuchen, den ich seit 1957 nicht mehr gesehen habe. Da ich in den letzte Jahrzehnten kaum je alleine reiste und es sich jeweils als unmöglich erwies, Mitreisende davon zu überzeugen, meiner Neugier auf einen Besuch dort stattzugeben, wenn man gerade in der Nähe vorbeifuhr, hat es mich seither nie wieder dorthin verschlagen.

Früher gab es einmal einen Bahnhof in Clausthal-Zellerfeld, wo ich mich dunkel an Dampflokomotiven zu erinnern scheine. Heute kommt man von Hannover mit der Eisenbahn bis Goslar. Ich hatte dort nicht genug Umsteigezeit, um den Dukatenkacker zu besichtigen. Von dort aus nimmt man den Bus. Dieser fährt allerdings sehr häufig und regelmässig und hat gute Anschlüsse an die Eisenbahn.

Das Wetter war brilliant-sonnig, herbstlich-kühl. Alles wirkte unnatürlich klar und scharf. Eine neue Brille muss ungefähr einen ähnlichen Eindruck von der der Welt vermitteln.

Der Harz ist eine relativ eng begrenzte Gegend, wo der Tourismus eine wichtige Rolle spielt. Die Berge sind vielleicht nicht ganz so hoch, wie hier in der Schweiz, aber es handelt sich doch um richtige (und ziemlich steile) Berge mit schönem Tannenwald. Durch diese Gegend gondelt man also eine halbe Stunde im Bus, bis man in Clausthal-Zellerfeld ankommt. Da der Bahnhof nicht mehr existiert (der sich genau zwischen Clausthal und Zellerfeld befand und damit wohl erst zu diesem Doppelnamen Anlass gab), weiss man natürlich als schlecht vorbereiteter Reisender nicht, welche Bushaltestelle fürs Aussteigen geeignet wäre. Ich nahm dann die zweite in Zellerfeld, wo ein grosser Plan hing. Anhand dieses Plans stellte ich fest, dass Clausthal auf der andern Seite des Tälchens lag. Dort ist die Bergwerksuniversität und dort befindet sich auch die Buntenböckerstrasse, von der Herr Methfessel an der Feier des siebzigsten Geburtstags meiner Eltern behauptet hat, dass wir zwischen 1952 und 1956 dort gewohnt haben. Mit genaueren Angaben hatte ich mich nicht ausgerüstet. Ich hatte mich offensichtlich davor gescheut, meinen Eltern die Frage nach dem Warum zu beantworten, die unweigerlich auf meine Frage nach unserer alten Adresse gefolgt wäre.

Ich wanderte also Richtung Zellerfeld und versuchte, dort ein Hotelzimmer zu bekommen. Dieses Unterfangen erwies sich als unerwartet schwierig. Alle Hotels waren voll und das Hotelpersonal war überall hochgradig unhöflich. Vielleicht besteht doch noch eine Chance für das Schweizer Hotelgewerbe, das den Deutschen wenigstens im Vergleich zum deutschen noch ganz erträglich scheinen muss. Einziger Lichtblick: eine Asiatin (Chinesin?), welche eines der Hotels zu besitzen schien und mir eine Erklärung (Konferenz an der Uni) und Tips für weitere Versuche gab (die allerdings auch nichts brachten). Da es langsam dämmerte, hatte ich schon fast beschlossen, wieder den Bus nach Goslar zu nehmen, als ich dann endlich in Zellerfeld ganz nahe, wo ich zuerst ausgestiegen war, eine sympathische kleine Pension fand, wo noch Zimmer frei waren.

Ohne schweren Rucksack marschierte ich etwas unbeschwerter zum zweiten Mal nach Clausthal und schaute mir den Bahnhof (jetzt Kurverein und Touristeninformationszentrum), die Universität (kommt mir bekannt vor), die Buntenböckerstrasse (unbekannt, ausser vielleicht dem Bäcker an der Ecke) und die Teiche dahinter an (die scheinen dafür wieder ganz vertraut). Hiess die Vermieterin (oder mindestens die Bewohnerin des oberen Stockwerks) nicht Muheim? Konnte man nicht einen Ball über das Dach schmeissen? War nicht eine Steintreppe vor dem Haus?

Vertraut scheinen auch noch die Wurstwaren und die Häuser. Besonders der Typ der Häuser, der eher ungewöhnlich ist für den Rest von Deutschland, scheint sich mir als Bild des Normalhauses eingegraben zu haben. Es handelt sich um Holzbauten, die bunt angemalt sind. Etwa wie in Schweden. Ausserdem sind die Dächer ziemlich steil und an vielen Häusern hängen kleine Täfelchen, auf denen vor Dachlawinen gewarnt wird. Ich erinnere mich, dass uns meine Mutter vor Dachlawinen in Klosters warnte, hatte aber irgendwie angenommen, sie hätte das Wort in der Schweiz kennengelernt ...

Ich esse in einer schrecklichen Bierkneipe Königsberger Klopse, komme aber nicht auf meine nostalgische kulinarische Rechnung, weil die Kapern fehlen und der Koch ein Italiener ist. Es handelt sich wohl um eine weitere Spezialität, die man nur selber richtig herstellen kann. Ist bei Gelegenheit mal auszuprobieren.

Im Hotel schaue ich etwas fern (kein TV zuhause!) und erwische ausgerechnet eine Sendung von „Fast ‘ne Familie“ auf bayrisch/deutsch! (Zur Identifizierung der Folge genüge hier das Stichwort Froschkönig.)

Bei dieser Serie handelt es sich um ein Schweizer Original. Charles Lewinsky (sein neuester Roman: Schuster! bei Haffmans) hat die Form der Sitcom aus den USA in die Schweiz importiert und ist Autor der hier sehr erfolgreichen Serie „Fascht e Familie“.

Erst schwankte ich, ob es sich um eine synchronisierte oder um eine deutsch nachgespielte Version handelte. Die Stimmen waren recht originalgetreu. Die relativ stark bayrische Wiedergabe der Äusserungen von „Hans“ ergab überraschend gute Übertragungen von schweizerdeutschen Formulierungen. Das Ganze funktionierte aber überhaupt nicht, d.h. es war nicht lustig. Ich vermute, dass es sich wirklich um eine synchronisierte Version handelt und somit der Rhythmus der Lacher nicht stimmte. Da der Wortwitz praktisch total tot war, blieb nur noch die Komik der Situation (eben: Sitcom!). Diese vermochte das Ganze in diesem Fall nicht zu tragen. Eventuell ist schon die Originalversion auf Schweizerdeutsch ein eher schwächeres Exemplar der Serie. Jedenfalls glaube ich nun zu verstehen, warum man Publikum braucht bei der Aufnahme.


Donnerstag, 25.9.97 Bielefeld

Am Morgen fuhr ich dann wieder mit Bus und Bahn nach Hannover. Dort stellte ich fest, dass es die Telekom inzwischen geschafft hat, dass man nirgends mehr mit Bargeld telefonieren kann. Ein auswärtiger Besucher, der auch nur einen einzigen Anruf am Bahnhof in Hannover oder Hamburg zu erledigen wünscht, muss mindestens 12 Mark für eine Telefonkarte hinlegen, auch wenn das Gespräch weniger als eine Mark kostet. Zudem ist die Dichte von Telefonkabinen ausserhalb der Bahnhöfe sehr gering und in Ost-Berlin gibt es im ganzen U-Bahnnetz immer noch (fast) keine Zellen. Am Alex fand ich nach zwanzig Minuten Suchen in einer unauffälligen Ecke genau vier. Mehr als drei Viertel der Telefonzellen in Berlin sind übrigens leere Attrappen. Offensichtlich hat man sie vor kurzem aufgestellt. Die Glasfaserkabel hängen drinnen frei herum. Bis zum Montieren der Apparate ist man noch nicht vorgedrungen. Die Hunde und Bettler benutzen die leeren Kabinen für ihre eigenen Zwecke. Irgendwie riecht alles nach Planwirtschaft. Seit die Telekom privatisiert ist, hat sie es offensichtlich nicht mehr nötig, eine Kommunikationsinfrastruktur für das allgemeine Publikum herzustellen. Vermutlich sind die Kabinen eher nicht kostendeckend, da ja auch der Vandalismuspegel in Berlin relativ hoch zu sein scheint.

Nachdem die erste Telekomhürde überwunden ist, verabrede ich mich mit Padeluun, dass ich ihn kurz nach Mittag an der Marktstrasse aufsuchen werde. Rena ist leider aufgrund einer Terminkonfusion nun doch schon heute, Donnerstag, zu ihrem Vortrag nach Hildesheim (?) gefahren, so dass ich sie höchstens am Abend sehen werde, wenn sie von dort zurück kommt.

Ich verstehe mich gleich gut mit Padeluun. Es handelt sich um einen der seltenen Fälle, wo die Wellenlänge von anfang an schon beidseitig die richtige ist. Es ist natürlich auch ganz schön nützlich, dass man hohe Übereinstimmung der Meinungen feststellen kann. Man hält sein Gegenüber sofort für intelligent und sympathisch, wenn dessen Überzeugungen mit den eigenen übereinstimmen. Ausserdem fühlt man sich in diesen bestätigt und wundert sich, warum der Rest der Welt nicht ebenfalls diese (inzwischen als „Wahrheiten“ identifizierten) Einsichten teilt. Der Effekt ist desto stärker, je seltener man Menschen findet, die zu denselben Schlüssen gekommen sind. Wir reden also unaufhörlich. Trinken Kaffee unter freiem Himmel in einem Restaurant um die Ecke. Es ist immer noch sehr sonnig.

Eines der vielen Themen, die zur Sprache kommen, ist die Frage, wie man dem permanenten Clinch der chronisch mangelnden Finanzen entkommt, wenn man dem Boden der ehemaligen Linken, oder Bürgerrechtsbewegung, oder wie man das nun nennen will, entstammt. Ausserdem ist natürlich hinderlich, dass Padeluun und Rena sich nicht als Computerexperten und Mailboxbetreiber, sondern eher als Kulturschaffende und Künstler verstehen. Man muss ihnen zugestehen, dass sie mit der Zerberus-Mailbox und dem PGP-Handbuch im wahrsten Sinne Kultur geschaffen haben (nicht avantgardistisch vertanden als Realisierung verkannter Originalgenies, sondern eher ethnologisch als alltägliches Verhalten und Kommunikation). Der Sanierung ihrer Finanzen steht einerseits entgegen, dass man in einer Umgebung von solidarischen, hilfsbereiten Mitmenschen operiert, die alle auch nicht genügend für ihre Leistungen erhalten und andererseits, dass man einfach nicht den Nerv hat, bei den grösseren und mächtigeren Geschäftspartnern einen Preis zu fordern, der aus unserer Sicht ans Unmoralische grenzt. Padeluun sieht immerhin ein, dass das Geld, auf welches er verzichtet, wenn er diesen Unternehmen einen zu günstigen Preis macht, nicht unbedingt in die richtigen Taschen fliesst.


Hier ist der erste Ansatzpunkt, wo ich auf meiner Deutschlandreise mit der Frage der Gesellschaftsform konfrontiert wurde. Diese stellte sich in den darauffolgenden Tagen immer wieder. Es ist klar, dass meine eigene Perspektive geprägt ist von meiner eigenen Position, in der ich mich momentan befinde. Ich habe 1983 zusammen mit anderen Freunden eine „selbstverwaltete“ Firma gegründet, die mit der damals neuen PC-Technologie arbeiten sollte.

Als Mathematiker hätte ich sonst höchstens als Lehrer zum Staat oder in eine multinationale, dreibuchstabige Firma (IBM, ITT, ABB, DOW, ...) gehen können. Das war dank der Verleumdungen und schwarzen Listen von Ernst Cincera und dank der Hysterie, mit der Personalchefs und der zürcher Erziehungsdirektor damals auf Studentenpolitiker reagierte, von vornherein ausgeschlossen. Ich hielt es auch politisch für wichtig, das Feld der Technologie nicht vollständig den technokratisch veranlagten Mitstudenten zu überlassen, die sich vor allem durch Bravheit auszeichneten. Allerdings erlebte ich in den Jahren darauf, dass meine alten Kommilitonen zuerst ein derart puritanisches Verhältnis zur Computertechnologie hatten, die für sie völlig vom Teufel kam, dass sich daraus später nur ein heuchlerisch-verlogenes entwickeln konnte. Jedenfalls ist meine „politische“ Wirkung als Computerexperte auf den „alternativ-linken“ Teil der Bevölkerung praktisch gleich Null, da dieser sich bis heute der Diskussion auf diesem Gebiet weitestgehend entzieht.

Die Frage nach der geeigneten Gesellschaftsform für unsere Bestrebungen stellte sich damals auch uns. Für mich stellte ein „Firmenmantel“ immer eine Art Grenze dar zwischen dem inneren Bereich, wo Solidarität möglich ist, weil allfälliger Profit allen zugute kommt und somit keine Motivation für über den normalen individuellen Geltungsdrang hinausreichende zerstörerische Konkurrenz vorliegt, und der aussen herrschenden maximalen gegenseitigen Ausbeutung. Ausserdem ist es sehr nützlich, wenn die Eigentümer der Firma als normale lohnempfangende Angestellte arbeiten. Damit kommen sie in den Genuss sämtlicher Sozialleistungen, selbst wenn sich die Gesellschaft ändert und sie etwa austreten, ausgekauft werden oder ähnlich. Im Extremfall hat man wenigstens Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung nach dem Konkurs. Zudem ist durch dieses Angestelltenverhältnis automatisch signalisiert, dass auch die Geschäftsleitung eine Sollarbeitszeit von acht Stunden pro Tag hat und es gegen die Grundidee alternativer Betätigung verstösst, wenn man sich in Selbstausbeutung zu Tode arbeitet. Als erklärter Gegner von Ausbeutung bin ich selbstverständlich auch gegen die Selbstausbeutung. Als letztes Argument spricht für die privatwirtschaftliche Firma als Organisationseinheit, dass in unserem kapitalistischen Ländchen immer, wenn von Vergünstigungen für die Wirtschaft die Rede ist, juristische Personen die Nutzniesser sind, nicht die Einzelfirmen — und dies kommt doch ab und zu vor.

Der erste Firmengründungsversuch scheiterte allerdings. Daran waren einerseits unklare Zielsetzungen schuld. Einige wollten programmieren, andere Hardware verkaufen, dritte Software verschaukeln, vierte dachten Support und Schulung zu vermarkten — und alle diese Märkte gab es damals noch nicht: das heisst, dass diese Dienstleistungen zwar schon notwendig waren, ihre Konsumenten das aber noch nicht eingesehen hatten. Andererseits ergaben sich die üblichen Schwierigkeiten bei der fairen Verteilung von Lasten. Es zeigte sich, dass das Zauberwort „Selbstverwaltung“ damals besonders starke Anziehungskraft auf Personen ausübte, denen vor allem an der Ausübung von Macht über andere gelegen war, und die in diesem Rahmen schnell vom Mitbestimmen zum Bestimmen übergingen, ohne etwa von den Lasten der Verantwortung oder den Mühen der Arbeit ein gleich grosses Stück für sich abzuschneiden. Eine Mehrheit von uns kam zur Schlussfolgerung, dass man die Firma weitgehend in eine Bürogemeinschaft verwandeln sollte, wo jeder nur aus „seinen“ Projekten bezahlt würde. Damit war allerdings alle Solidarität begraben und jeder fing an, von der gemeinsamen Infrastruktur mittels Übernutzung das grösste Stück für sich abzuschneiden. Schliesslich kamen uns noch psychologische Probleme (Drogen, massiver Alkoholismus) in die Quere, mit denen wir damals überhaupt nicht umzugehen verstanden.

Ich stieg etwa anderthalb Jahre vor der Liquidation dieser Firma aus, nachdem ich etwa ein Jahr lang erfolglos alles Mögliche unternommen hatte, eine solidarische Kooperation und ein optimales Ausnutzen aller individueller Fähigkeiten zu stimulieren. Dass ich dann noch einmal eine „selbstverwaltete“ Firma gründete, erklärt sich dadurch, dass ich der Meinung war, die Ideen der Selbstverwaltung seien durch dieses Scheitern keineswegs grundsätzlich widerlegt, sondern ihrem ursprünglichen Zweck sei eine zweite Chance zu geben. Ich nahm mir vor, nur noch neue Fehler zu machen. Diese zweite Firma, die heute noch existierende Enter AG, war auch bald keine im engeren Sinne „selbstverwaltete“ Firma mehr. Meine drei Mitbegründer stiegen aus den verschiedensten Gründen im Laufe der ersten zwei Jahre aus (soziale Probleme, Pensionierungsalter, aktiver Zen-Buddhismus). Somit fand ich mich plötzlich als Alleineigentümer meiner Firma. Die neuen Mitarbeiter, die ich im Laufe der Zeit anstellte, zeigten anfänglich wenig Interesse, an einer Beteiligung an den Produktionsmitteln in Form von Aktien. Auch hatten sie keine Lust auf das Teilen von Verantwortung. Im Laufe der Zeit habe ich jedoch einige Mitarbeiteraktien an den Mann bzw. die Frau gebracht und stelle fest, dass heute bei meinen neueren Mitarbeitern ein deutliches Interesse daran besteht. Auch hat die kollektive Übernahme von Verantwortung an unserer gemeinsamen Arbeit allseits laufend zugenommen.

Ich besitze momentan immer noch die absolute Mehrheit der Aktien. Insofern dürfte ich „meinen“ Betrieb nicht „selbstverwaltet“ nennen, sondern eher „patriarchalisch verwaltet“. Dadurch, dass jeder Mitarbeiter freien Zugang zur Buchhaltung und zu allen Offerten und Verträgen hat, dass jeder weiss, wer wieviel verdient, dass jeder weiss, dass der erarbeitete Mehrwert nicht von irgendwem abgezockt wird, sondern allen zugute kommt, dass alle Mitarbeiter das Recht haben, selbst ohne Aktienbesitz an Gesellschaftsversammlungen mit beratender Stimme teilzunehmen, dass alle Mitarbeiter die Möglichkeit haben, Aktien zu erwerden, dass alle Mitarbeiter die Verwaltungsratsprotokolle zu lesen kriegen, und dass alle bei jedem Projekt vollumfänglich informiert sind über die Beziehungen zum Auftraggeber, ist die resultierende Firma vielleicht trotzdem als „selbstverwaltet“ einzustufen. Obwohl die Löhne verschieden hoch sind, scheint mir der Grad an Solidarität und „job satisfaction“ ziemlich hoch zu sein, verglichen mit anderen Arbeitsplätzen. Bei dieser positiven Selbsteinschätzung meiner Firma ist allerdings eine gewisse Vorsicht angebracht, da allfällige kleinere lokale Unzufriedenheiten vor dem „Chef“ eher versteckt gehalten werden könnten.

Generell habe ich gute Erfahrungen gemacht, mit der Übereinstimmung von formaler und realer Autorität. Ich habe auch gute Erfahrung gemacht mit dem Kleinunternehmen. Die Alternativen sind: die Einzelfirma oder der Job in einer grossen Firma bzw. in einer Verwaltung. Die Einzelfirma hat nicht nur den Nachteil der grössten Unsicherheit. Dieser wird ja dadurch kompensiert, dass man dafür auch nur für sich selber verantwortlich ist. Ihr Hauptnachteil besteht für mich im Entzug der Kooperation. Man erlebt in einer Einzelfirma praktisch nie, dass andere mit einem kooperieren, ausser sie profitieren direkt und sichtbar. Wenn man längere Zeit als Einzelkämpfer so operiert, bildet sich fast unweigerlich ein zynisches Menschenbild, das zwar die ökonomische, aber nicht die ganze Wirklichkeit spiegelt. Der Job in einer grösseren Umgebung hat den Nachteil, dass er oft von massiver Bürokratie umstellt ist. Auch ist die einzelne Leistung dermassen weit entfernt von ihrem Nutzen, dass es keinen sichtbaren Massstab für diese mehr gibt. Der im Kleinunternehmen relativ sichtbare wirtschaftliche Erfolg der eigenen Arbeit wird in solchem Umfeld oft durch Erfolg auf der Beziehungsebene in der Hierarchie oder Gruppe ersetzt. Während man als Einzelfirma und in der Kleinfirma stolz auf qualitativ hochstehende Arbeit ist, verliert sich das Bewusstsein für Qualität der Leistung des Einzelnen in komplexen und grossen Strukturen. Ein wichtiger Vorteil der Kleinfirma besteht auch darin, dass man Projekte machen kann, die zu gross für eine Einzelperson sind. Die Risiken (Krankheitsfall etc.), die ein Auftraggeber mit einer Kleinfirma eingeht, sind also im Gegensatz zur denjenigen einer Einzelfirma kleiner. Dafür ist auch die Durchsetzungsstärke der Kleinfirma gegen ihre Auftraggeber besser. Die „Externen“ Einzelnen werden von grossen Auftraggebern relativ erbarmungslos verheizt. Bei Kleinfirmen ist dies schon deutlich weniger der Fall, da diese ihren Mitarbeitern die üblichen Sozialleistungen bieten und die entsprechende Infrastruktur aus ihrer Arbeit mitfinanzieren müssen.


Nach dieser Abschweifung zurück zu Padeluun. Ich glaube nicht, dass Rena und Padeluun durch die Gründung einer GmbH sofort aus dem Schneider wären. Ich denke, dass sie so funktionieren, dass auch grössere Einkommen bei der Vielfalt von Ideen und Projekten in Kürze wieder abfliessen würden. Ein „Firmenmantel“ würde ihnen nur dann nützen, wenn neben den beiden Kulturtätern auch mindestens ein kühler Rechner das Ruder in der Hand hielte. Eine solche Kombination wäre allerdings Dynamit und könnte aus dem vorhandenen Potential in Bielefeld eine ganz schöne Action herausholen.

Nach dem Kaffee ein kurzer Spaziergang durch die Innenstadt von Bielefeld. Dabei machen wir einen kleinen Ausflug in die Sparkasse, wo Padeluun das Aufladen seiner Geldkarte zu Testen versucht. Dabei kommt es zu einer Reihe kleiner Pannen und er macht das zuständige Personal auf die Problematik aufmerksam. Der Herr, der sich schliesslich um das Problem (uns) kümmert, klagt über die Bürokratie der EDV-Abteilung der Sparkassen und darüber, wie eine Zweigstelle fast keinen Einfluss auf unsinnige Programmierer nehmen könne. Es handelt sich ja schliesslich nur um die Endbenutzer. Für die interessiert sich nun wirklich niemand, nachdem zuerst die Projektleiter sich verwirklicht haben und den Programmierern vorgeschrieben haben, was zu tun ist, und dann die Programmierer mangels Kontakt mit Endbenutzern und mit den Auftraggebern das implementiert haben, was sie den eher knappen Angaben ihrer Akquisitions-Aussendienstler zu entnehmen vermochten, und nun schliesslich nach der Abnahme durch EDV-Experten der Sparkassen sowieso schon alles bezahlt ist, bevor der erste Endbenutzer das Produkt zu sehen kriegt. Die Geldautomaten hätten auch so eine Unart: sie geben das Geld aus, bevor sie die Karte ausspucken. Das kommt mir bekannt vor, da ich meine Postomatkarte mindestens einmal alle drei Monate im Automat vergesse. Dieser zieht sie glücklicherweise relativ schnell ein, worauf mir die Post das Teil innerhalb von zwei, drei Tagen wieder zuschickt, was mich meistens überrascht, weil ich ihr Fehlen noch nicht bemerkt hatte. Die beanstandeten Automaten stammen denn natürlich auch aus der Schweiz. Sie werden von der Ascom produziert. Wer beschreibt meine Überraschung, als ich eine Woche später am Bahnhof Zürich am Postomat Geld beziehe und mir die Karte ausgegeben wird, ohne dass ich das Geld erhalten habe. Nun sehe ich erst die grossen Plakate neben all den Maschinen mit der Mitteilung „Achtung! Neue Bedienerführung“. Tatsächlich: nach Entnahme der Karte, kriege ich auch mein Geld und den Beleg. Ausserdem ist das Aufladen der Cash-Karte als neue Option hinzugekommen.

Am Abend holen wir Rena vom Bahnhof ab. Unterwegs erzählt mir Padeluun die Story seiner Schwierigkeiten mit der Post. Diese ist mindestens für den Zuhörer recht amüsant. Es handelt sich um einen dieser Bürokratieexzesse beim Ausliefern eines Briefs, der an die Firma statt an die Person adressiert war, und wo es um die Rechte des Abholens ging. Natürlich war der Inhalt der Sendung dringend. Vorlagen für den Drucker(?) oder Ähnliches. Jedenfalls hat Padeluun sich zur leichten Randale gesteigert (Schreibtisch leergefegt) und das Ganze kulminierte in einem Prozess. Der Richter, der sonst nicht gerade für Samthandschuhe oder für Sympathie mit Bürgerrechtlern bekannt ist, konnte allerdings den Ärger auf die Postbürokratie gut nachvollziehen und entschied mit einem Schuss Humor. Padeluun kam einigermassen ungeschoren davon.

Mit Rena gingen wir dann essen. Sie war noch ziemlich müde von ihrem Vortrag. Ich anerbot mich, zu versuchen, ihre Lizentiatsarbeit (oder wie man sowas in Deutschland am Pädagogikinstitut nennt) Manfred Papst zur Publikation zu unterbreiten. Wir quatschten noch bis in die Nacht.

Ich erzählte, dass ich ein Essay über „Privatisierung“ schreiben möchte. Mich beunruhigt, dass man heute seelenruhig ans Privatisieren von Post, Bahn, Schulen geht, wo man doch gerade auch zur Erhaltung der Freiheit des freien Marktes den Zugang zu diesem durch die Gemeinschaft garantieren muss. Ich meine, dass man die Privatisierungswut mal bis zum Ende denken sollte. Schon wegen der gleich langen Spiesse sollten unbedingt die Strassen im gleichen Masse privatisiert werden, wie die Bahnen. Dann wäre endlich der Exzess der privaten Verkehrs ein für allemal behoben. Dann könnten wir natürlich die Gerichte privatisieren, die Polizei privatisieren, die Kraftwerke privatisieren, die öffentliche Schulbildung abschaffen, die Nationalbank und das Gelddrucken privatisieren und die Armee privatisieren. Bei jedem dieser Schritte wäre zu überprüfen, wo man dabei ankommt. Es gibt ganz bestimmte Punkte in der Geschichte, an denen sich die Vergemeinschaftung dieser Institutionen aufdrängte. Im Moment, wo man einen solchen Schritt rückgängig macht, kommen dann die alten Konflikte wieder hoch, die damals mit der Verstaatlichung beseitigt wurden. So wie nach dem Ende des kalten Kriegs plötzlich relevant wurde, wer wo 1945-48 stand und was er besass und so wie heute am Ende des 20. Jahrhunderts die kontinentalen Konflikte dort weitergehen (im Balkan), wo sie vor dem 1. Weltkrieg standen, so wird man bei der Abschaffung der Grundpfeiler des Schweizerischen Bundesstaates aus dem 19. Jahrhundert (Schule, Post, Bahnen) wieder bei den Strukturen ver der Gründung dieses Nationalstaats ankommen. Man muss nur Fichtes Reden an die deutsche Nation rückwärts anwenden. Ich bin natürlich nicht qualifiziert, über dieses Thema zu schreiben, weil ich weder von Ökonomie, noch von Politik noch von Geschichte etwas verstehe. Darum kann daraus auch höchstens ein fragmentarisches Essay werden statt einer fundierten Untersuchung. Es müsste interessant sein, gute Kriterien zu erarbeiten, in welchem Mass welche Bereiche staatlich sein können oder sollen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das World Wide Web international „verstaatlicht“ oder „vergemeinschaftet“ werden sollte — etwa unter der Obhut der Weltpostunion.

Ich sagte dreiviertel zu, dass ich mich am 27. Dezember in Hamburg mit dem Thema Kompressionsverfahren einfinden würde.

Gegen fünf Uhr gings ins Bett. Gegen zehn Uhr stand ich auf, weil ich gegen Mittag nach Hamburg fahren wollte. Ich wusste noch nicht, dass dies das Muster meines Tagesablaufs während meiner Deutschlandreise werden würde. Ich hätte alle vier Tage einen „Ruhetag“ einschieben sollen. Ich las noch etwas über die Neo-Nazi-Szene auf dem Netz (Rena ist Koautorin) und ein hübsches Buch über Problemlösungsverhalten in komplexen Situationen mit ungenügender Information, wo vor allem Simulationen verwendet werden, um dieses Verhalten zu untersuchen. Für mich interessanteste Folgerung war, dass sich die Qualität der Entscheidungsfindung anscheinend lernen lässt. Eine Gruppe von Entscheidungsträgern managte ein afrikanisches Biotop bedeutend erfolgreicher, als eine Gruppe von Psychologiestudenten. (Wenn ich hier auf „Lernen“ schliesse, habe ich „Selektion“ ungerechtfertigterweise als Ursache schon ausgeschlossen.)


Freitag, 26.9.97 Hamburg

Ich komme gegen drei in Hamburg an und habe natürlich alle wichtigen Koordinaten zuhause vergessen. Im Telefonbuch finden sich gleich vier Firmen, die Ratio irgendwas heissen und Software herstellen. (Interessante Korrelation!) Glücklicherweise erwische ich Dörte Schultz dann trotzdem schon beim ersten Versuch und lasse mich per Taxi zu ihrer Firma fahren. Der Taxifahrer hat grössere Schwierigkeiten beim Navigieren, was anscheinend auch damit zusammenhängt, dass gewisse Baustellen zentrale Durchstiche manchmal zulassen, manchmal zu grossen Umwegen zwingen.

Dörte hat in Rostock Informatik studiert. Als ich nach der Wende verschiedenen Studenten aus Rostock ein Praktikum bei der Enter AG ermöglichte, verbrachte auch sie ein paar Monate bei uns im Büro in Zürich. Sie hat vielleicht nicht viel über Programmieren gelernt, was sie nicht schon wusste. Da sie aber Interesse an wirtschaftlichen Abläufen zeigte, hat sie wohl bei uns mehr gelernt, wie man mit Auftraggebern umgeht, wie man Offerten schreibt, wie man Verträge abschliesst etc. als irgend ein anderer Praktikant der Enter AG. Seit einem Jahr hat sie ihr Studium abgeschlossen und arbeitet in Hamburg. Sie konnte feststellen, dass die ostdeutschen Informatiker in Konkurrenz mit denen im Westen ganz gut bestehen, und dass es nicht sehr schwierig ist, auf diesem Gebiet Arbeit zu finden. Sie hat kein exorbitantes, aber für eine Anfängerin direkt nach dem Studium ein anständiges Einkommen.

Die Geschäftsräumlichkeiten der Ratio sehen ganz angenehm aus — wie eben so Softwareleute arbeiten. Dörte scheint gut mit ihren Mitarbeitern auszukommen, wenn auch das grosse Vertrauensverhältnis eher fehlt. Das Programm, das sie im letzten Jahr entwickelt hat, kann sich sehen lassen. Woran es im ganzen Laden offensichtlich fehlt, ist Projektmanagement und klare Kommunikation der zu erreichenden Ziele. Die Akquisition schirmt die Kunden von den Programmierern ab. Die Folgen kann man dann bei Steve McConnell in seinem neusten Buch Rapid Development bzw. im Dilbert Comic nachlesen.

Ich lud mein Zeug im Hotelzimmer ab, das Dörte für mich organisiert hatte und ass bei ihr mit Kay zusammen das Abendessen — ein exzellenter Gratin. Sie wies mich auf die Quints von Christine Brückner und auf die Indianerromane von Liselotte Welskopf-Henrich hin. Beide Tips habe ich seither beherzigt und mit Genuss gelesen.

Kay berichtete über seine Arbeit und seinen nahe bevorstehenden Abschluss und Dörte ein bisschen von den Schwierigkeiten in ihrer Firma. Sie scheint zu glauben, dass diese spezifisch für ihren jetzigen Arbeitsplatz sind. Sie gestand mit allerdings zu, dass sie während ihrer Zeit bei der Fraunhofer Gesellschaft ähnliche Erfahrungen gemacht hatte. Ich wies sie darauf hin, dass es nach meinen Beobachtungen typisch ist, dass Softwarefirmen ihren Programmiererstall ohne Kommunikation mit Auftraggebern und Benutzern halten und dass ebenso typisch als auch ruinös ist, dass die Programmierer von der Akquisitions-/Verkaufsabteilung unklar umschriebene Aufträge zugewiesen erhalten mit Abgabeterminen, die in keinerlei Beziehung zur zu leistenden Arbeit stehen. In ihrem Fall handelte es sich um eine Programmierarbeit etwa im halben Umfang dessen, was sie im letzten halben Jahr gemacht hat, die sie in vierzehn Tagen fertig haben sollte. Ich schlug ihr als Gegenmittel vor, dass sie sofort ihrem Chef mitteilt, dass der Termin unrealistisch ist, und dass sie zuerst eine ausführliche Spezifikation erstellen müsse, auf welche Basis erst der Implementationsaufwand beurteilt werden könnte. Diese Spezifikation sollte sie ihm dann in nützlicher Zeit zusammen mit einem realistischen Zeitplan abliefern ohne Rücksicht auf die Wünsche allfälliger Auftraggeber. Auch wenn es ungern gehört wird, ist immer wieder festzuhalten, dass unreale Zeitpläne allen Beteiligten schaden.

Diesmal kam ich immerhin schon gegen Mitternacht ins Bett. Am nächsten Morgen, war es immer noch strahlendes Wetter und wir spazierten etwas durch Hamburg unter spezieller Berücksichtigung der Hamburger Comics-Läden. Dabei kam noch zur Sprache, wie man sein Leben mit dem Wunsch nach Kindern und dem Wunsch nach befriedigender Arbeit koordinieren kann. Mir scheint, dass Dörte auch diese Herausforderung mit klarem Blick in Angriff nehmen wird.


Samstag, 27.9.97 Berlin

Am frühen Nachmittag verabschiedete ich mich von Dörte und nahm den Zug nach Berlin. Dort nahm ich ein Taxi von Zoo nach Mitte mit Umfahrung der Berliner Marathon-Absperrungen. Mein Onkel Gerhard Thomas, Redaktor der Kirchenzeitung Die Kirche, und Tante Rotraut wohnen in der Sophienstrasse gerade bei den Hackeschen Höfen — eine Wohnlage, die jährlich beneidenswerter zu werden scheint — und hatten mir angeboten, dass ich während meines Berlinbesuchs bei ihnen übernachten dürfe. Ich kam denn auch rechtzeitig eine Stunde vor Rotrauts Geburtstagsfeier an. Zu dieser steuerte ich nicht einmal Schnittblumen bei, die am Bahnhof Zoo zu beschaffen gewesen wären, da ich Pflanzenkadaver auch anderen in ihren Wohnungen nicht zumuten mag. Dafür amüsierte ich mich blendend mit dem einzigen anderen Teilnehmer an der Feier mit ebenfalls kindlichem Gemüt, Rotrauts Neffen Maximilian, dessen Alter von rund zehn Jahren seinen Anspruch auf ein solches ausweist, was man von mir nicht behaupten kann. Dass er mich so ausgezeichnet unterhielt wurde mir danach ausführlich verdankt und als schnittblumenersetzender Bonus hoch angerechnet.

Schon als ich eintraf, lagen zwei Telefonanrufe für mich vor: einer von Gerda Neubert und einer von Stefan Wiener. Ich rief beide zurück und erreichte sie nicht. Dann organisierte ich Nancys Besuch mit Gerhard und Frank und hinterliess eine Nachricht auf Claudias Aufzeichnungsgerät.

Nancy Smith war zur Feier des 70. Geburtstags meiner Eltern eine Woche zuvor aus Kalifornien in die Schweiz gekommen und hatte daran anschliessend noch einen Besuch in Rostock bei Geschwistern meiner Mutter angeschlossen und sollte am Sonntag aus Rostock in Berlin eintreffen. Da sie sich sehr gut mit meiner Cousine Birgit Kell und deren Freund Frank Winkler verstand, hatte sich Frank anerboten, sie vom Bahnhof abzuholen und sicher in ihr Hotel zu geleiten. Gerhard schlug dann vor, sie solle doch zum Kaffee an die Sophienstrasse kommen und ich bat Frank, das zu organisieren.

Im Laufe des Abends riefen dann Gerda und Stefan an. Ich vereinbarte einen Tierpark-Ausflug mit den Neuberts und versuchte, ein Treffen mit Stefan für Dienstag bei Jochen in die Wege zu leiten.

Ich kam schon gegen zwei ins Bett, musste aber relativ(!) früh aufstehen, da ich um elf im Tierpark sein wollte. (Allenfalls muss man immer Tiergarten denken, wo hier Tierpark steht. Jedenfalls handelt es sich um den Zoo in Ost-Berlin.)


Sonntag 28.9.97 Berlin

Ein gemütliches Frühstück mit Rotraut und Gerhard und dann im immer noch strahlenden und warmen Wetter zum Alex und zum Tierpark.

Dort treffe ich Annelie, Hannes und die drei Mädchen, die an diesem sonnig warmen Tag ausgesprochen guter Laune sind. Wir spazieren gemütlich durch den Park. Die Mädchen lassen sich zwar teilweise von den Tieren ablenken, aber ganz ungeteilt kann ich meine Aufmerksamkeit den Berichten von Annelie und Hannes über ihre berufliche Situation nicht zuwenden. Mir scheint, dass Annelie die Wiederaufnahme ihrer Arbeit (Blockflöten-/Flötenunterricht) nach längerem Unterbruch gut überstanden hat und sich dabei wohlfühlt. Sie hat mit Überraschung festgestellt, dass sie während ihres Aussetzens anscheinend trotzdem Fortschritte gemacht hat. Soweit es mir möglich war, zwischen Aufmerksamkeit heischenden Interjektionen von Ella und Gerda, Hannes zu folgen, so ist er nun doch langsam der völlig freiberuflichen Arbeit als Violinist müde. Die Möglichkeiten, an einer Schule o. ä. eine Anstellung zu erhalten, sind allerdings beschränkt, da auf kulturellem Gebiet die Budgets jährlich schmelzen und vielerorts Abgänge nicht ersetzt werden.

Gerda hat seit ein paar Monaten Latein in der Schule und beeindruckte mich mit der Konjugation von Verben der 1., 2., 3. und 4. Konjugationsklasse. So weit waren wir nach drei Monaten noch nicht! Obwohl sie entsetzlich gern wieder in die Schweiz skifahren kommen würde, hat sie sich für die Sportferien für die Teilnahme in einem Lager „breitschlagen“ lassen, wie sie es formulierte. Vielleicht kann man um Ostern etwas organisieren.

Nach jahrelanger Zitterpartie ist es der Familie Neubert nun gelungen ihr kleines Häuschen in Ahrenshoop nun auch nach wiedervereint deutschem Recht zu ihrem Eigentum zu machen. Sie haben also Badeferien als Tauschwert gegen Skiferien anzubieten.

Um vier Uhr fand ich mich dann wieder bei Gerhard und Rotraut ein. Frank Winkler hatte Nancy Smith, meine Schwiegermutter, dorthin gelotst, die von den Thomasens zum Kaffee eingeladen worden war. Mein Cousin Roger, der Sohn von Gerhard und Rotraut, wohnt seit rund einem Jahr in Ohio. Dort haben ihn Gerhard und Rotraut dieses Frühjahr besucht. Solange ich mich von Franks Computerfragen ablenken lasse, hat Rotraut weniger Hemmungen, Englisch zu reden und Nancys Deutsch wird auch laufend besser. Die beiden scheinen sich jedenfalls glänzend zu verstehen. Nachdem nun die Ostdeutschen eine Chance hatten, sich mit eigenen Augen ein Bild von den Zuständen in den USA zu machen, ist die kulturelle Verständigung auch deutlich einfacher geworden, als früher.

Claudia Denzler rief auf meine Beantworternachricht hin an und so konnte ich den Montag abschliessend organisieren: Ich würde mit und bei Claudia Mittag essen und mich am Nachmittag bei Brigit Kell und Frank Winkler einfinden.

Am Abend assen wir ein gemütliches Abendbrot und schauten im Anschluss „Tatort“. Gerhard erzählte mir, wie sie in den ARD-Nachrichten am Tag davor im Anschluss an die neueste Wendung in der Steuerreformdebatte mitten in die seriösen Nachrichten einen bekannten Komiker auftreten liessen, der die Arcana der deutschen Politik erläuterte: die Parteien hätten alle eingesehen, dass das Ausmass an Verantwortung, das eine Regierungspartei zu tragen habe, eigentlich zu gross für sie sei. Deshalb wollten alle in Hinblick auf die nächsten Wahlen der Gegenpartei nicht das Regieren noch zusätzlich erschweren, dadurch dass ihr Entscheide vorweggenommen würden. (Sämtliche Angaben und meine Paraphrase von Gerhards Paraphrase natürlich ohne Gewähr, aber die ungefähre Stossrichtung wird wohl stimmen.)

Die Kirchenzeitschrift, die Gerhard leitet, steckt wieder einmal in politischen Schwierigkeiten. Die Kirchen müssen auch sparen. Man redet von Zusammenlegungen und entsprechend Personaleinsparungen. Ich denke, dass Gerhard auch diesen Strauss erfolgreich über die Runden bringen wird. In der Vergangenheit ist ihm das ja jeweils recht gut gelungen. Für ihn stellt sich aber dringend das Problem der Nachfolgeregelung. In zwei Jahren hat er das Pensionsalter erreicht. Es kann sich also heute schon für einen Bischof lohnen, auf Zeit zu spielen. Die designierte Nachfolgerin von Gerhard ist zwar eine ausgezeichnete Redaktorin, aber Politik liegt ihr nicht. Ich rege an, dass er wie der NZZ-Buchverlag seine Stelle vielleicht in zwei teilen müsste: eine für die inhaltliche Leitung (Redaktion) und eine für die geschäftliche Leitung (Politik). Um zu verhindern, dass mit einer solchen Verdoppelung der Leitung die Anzahl Stellen zu sehr aufgebläht wird, sind vielleicht nicht beide Stellen mit 100% zu dotieren. Im Fall des NZZ-Buchverlags scheint ein solches Führungstandem jedenfalls durchaus fruchtbar zu funktionieren. Er müsste unbedingt den designierten politischen Nachfolger jetzt schon jeweils zu Verhandlungen mitnehmen, damit den Gesprächspartnern klar wird, dass mit der Taktik der Verzögerung oder Zermürbung nicht gewonnen werden kann.

Diese Diskussion hat mir wieder vor Augen geführt, dass auch ich meine Nachfolgeregelung endlich ins Reine bringen sollte. Da die Enter AG keine Schulden bei der Bank hat und keine Minderheitsanteile an grosse Partner zu verkaufen versucht, wurde ich von aussen bisher nicht dazu gedrängt, wie das etwa früher bei Gustav Furrer der Fall war. Trotzdem ist es etwas unverantwortlich, meinen Mitarbeitern gegenüber, wenn ich die Weiterexistenz der Firma nicht nach Möglichkeit sichere. Ich denke, meine Aktien sollten den anderen Aktieninhabern zum Nennwert angeboten werden. Dabei wären diese proportional zu ihrem jetzigen Aktienbesitz zu berücksichtigen. Der Erlös sollte an meine gesetzlichen Erben gehen. In jedem Fall sollten aber Massnahmen, die zur Erhaltung der Firma dienen, Vorrang haben. Ich werde mal mit unserem Firmenanwalt darüber reden.


Montag, 29.9.97 Berlin

Am Montag frühstücke ich mit Gerhard und Rotraut und verabschiede mich von Gerhard, der auf Geschäftsreise geht und den ich vor meiner Abreise nicht mehr zu Gesicht bekomme.

Gegen Mittag finde ich mich in Kreuzberg bei Claudia Denzler ein. Ihre neue Wohnung dort zeigte sich im besten (strahlend klarem, warmem) Sonnenlicht. Auch Claudia schien wohlgemut zu sein, wenn auch ihre Schwierigkeiten mit ihrer halbwüchsigen Tochter Maria anhalten. Diese geht momentan wieder sporadisch zur Schule, weigert sich aber „im Westen“ bei ihrer Mutter zu wohnen. Regelungen mit Hilfe des Sozialamts (oder wie so etwas in Deutschland heisst) werden zwar ins Auge gefasst, sind aber mangels Kooperation seitens Maria nicht einfach. Eine gewisse Vereinfachung und Klärung hat wenigstens die endgültige Trennung von Jochen gebracht. Claudia hat sich zur Einsicht durchgerungen, dass Maria nicht der einzige Grund war, weshalb die Beziehung nicht mehr aufrechtzuerhalten war. Der Status ihrer Beziehungen zur Feurigstrasse, die nach diesem Schritt noch möglich sein werden, ist momentan noch offen.

Sie hat dasselbe gekocht, wie am Neujahr vor zwei Jahren bei ihrer Mutter, was ich ohne ihren Hinweis wohl nicht gemerkt hätte. Ihr Geschäft (Übersetzen) läuft dank Mitropa-Dauerauftrag noch recht gut und ist dank der mit Hilfe ihrer Mutter erstandenen Eigentumswohnung auch dauerhaft gegen schlechtere Zeiten abgesichert. Ausserdem scheint sie auch auf dem Gebiet der Buchübersetzungen laufend Aufträge zu erhalten.


Danach begab ich mich an die Schöneicherstrasse zu Brigit und Frank und bewunderte als erstes das (für mich) neue Geschöpf Anne. Diese sah nicht grundlegend anders aus als andere Säuglinge und hatte eine zufriedene Ausstrahlung. Birgit hält sie auf Distanz zu Franks Rauchen und widmet sich ihr ziemlich vollständig. Wir machten eine kurze Spazierrunde zusammen. Auf dieser erzählte mir Birgit, dass sie ihre Pläne eines Auslandsjahrs nicht wegen Anne aufgeben wolle, sondern in ein oder zwei Jahren wieder Bewerbungen einreichen wolle. Sie wird im Frühjahr wieder zu arbeiten beginnen. Bis dann wird Anne wohl abgestillt sein und die Pläne mit Tagesmutter etc. sind schon recht klar durchdacht.

Ansonsten diskutierte ich mit Frank Literatur. Zuerst in der Küche, dann in der Kneipe um die Ecke, die noch ein prä-Wende Cachet pflegt mit handgetippter Speisekarte voller Druckfehler, mit Solyanka und sozialistischer Sauce. Nur der gehackte Kohl mit süsslicher Sauce schien nicht mehr auf der alten Höhe zu sein. Die veränderte Gemüsesituation war in diesem Punkt wohl stärker.

Wir verhandelten Preczang, den ich auf der Fahrt mit Vergnügen gelesen hatte, und der nun nach Ablauf der 70 Publikationsverhinderungs-Urheberrechtsjahre verdienen würde, neben anderen zweitwichtigsten Autoren des 20. Jahrhunderts wieder einmal verlegt zu werden. Als typischer Sozi der frühen 30er hatte er in Hitlerdeutschland keine Chance, im SED-Deutschland konnte man mit solchen Linken auch nichts anfangen und im Adenauerdeutschland erst recht nicht. Bis zum Brandt-Deutschland war er dann in Vergessenheit geraten.

Dann kam etwas Wieland dran. Frank ist noch immer überrascht, dass es Germanistikprofessoren gibt, welche die Primärliteratur nicht gelesen haben, über die sie schreiben. Dabei sollte man diese Realität doch nach Abgabe der Magisterarbeit endlich einmal zur Kenntnis genommen haben.

Schliesslich erklärte er mir die Grundthese seiner Doktorarbeit über die Aufklärung. Seine Grundthese besteht darin, dass „Aufklärung“ im Gegensatz zum Zerrbild, das die moderne Aufklärungskritik der Postmoderne (etwa Sloterdijk in seiner zynischen Vernunft) von ihr entwirft, gar nicht die Verabsolutierung des Verstandes verfolgt, sondern eine Harmonisierung der Affekte und Emotionen mit der Vernunft anstrebt. Gerade die Akzeptanz des Triebhaften im Menschen ist vernünftig. Deshalb ist die Aufklärung auch die Epoche der erotischen Literatur. Bei Wieland vereinigen sich diese Aspekte recht augenfällig. Aber auch Voltaire und andere Theaterautoren passen sich gut in dieses Bild ein. Soweit ich verstanden habe, will Frank diese Grundthese anhand der deutschsprachigen Dramatik der Epoche verfolgen.

Diesmal komme ich schon kurz nach Mitternacht mit mittlerem Alkoholpegel ins Bett.

Dienstag, 30.9.97 Berlin

Verabredungsgemäss finde ich mich am Vormittag in der Feurigstrasse ein. Anlässlich eines Kredits, den ich Jochen Denzler und Udo Radek von der Firma Timecode (GBR) einräumte, hatte ich vor einem halben Jahr mit Jochen vereinbart, dass wir heute mit Udo Radek über meine Veranlassung reden könnten, ihrer Firma einen solchen Kredit zu geben, und über die Gründe, warum ich immer noch der Meinung bin, dass eine GmbH-Gründung für die Firma Timecode angezeigt wäre. Bei einer solchen Gründung hätte ich mir vorstellen können, dass ich mich als Gesellschafter beteilige. Es stellte sich dann heraus, dass ich Udo Radek leider nicht kennenlernen konnte, weil dieser gerade auf einem Dreh war. Ich verstehe, dass Kameraleute auch kurzfristig ihre Zeit nicht gut planen können. In Anbetracht der Tatsache, dass ich den Termin mehr als sechs Monate vorher festgemacht hatte, dass ich damals den Kredit innerhalb von zwei Tagen überwiesen hatte, dass ich immerhin extra von Zürich angereist war, und man mir bis vor einer Woche hätte telefonisch mitteilen können, dass der ursprünglich abgemachte Termin nicht günstig sei, kam ich zum Schluss, dass Udo Radek keine Lust hat, mich kennenzulernen. Hier spielt wohl das bekannte Unbehagen des Kreditnehmers gegenüber dem Gläubiger hinein, besonders wenn dieser sich im primitiv-kapitalistischen Sinn unverständlich verhält. Es blieb mir also nur noch übrig, zu prüfen, ob ich mein Darlehen vernünftig angelegt habe. Das scheint mir nun nicht der Fall zu sein, da es nicht zur Erhöhung der Lebensqualität oder zur Schaffung von Arbeitsplätzen gedient hat, sondern eine eher problematische partielle Eigenfinanzierung eines Filmprojekts in Kuba ermöglicht hat, die wohl niemandem nachhaltig nützen wird. Mein Kreditengagement reduziert sich somit darauf, einfach zu hoffen, dass mein Darlehen Zinsen trägt und irgendwann einmal zurückbezahlt werden wird.


Die Frage der GmbH-Gründung kam daher naturgemäss nicht ernsthaft zur Sprache, sondern wurde nur am Abend im Restaurant in gemischter Gesellschaft gestreift. Dabei stellte sich heraus, dass die Ablehnung der juristischen Form sehr vehement ist. Dies überraschte mich umso mehr, als ich sonst eine Reihe von Einzelfirmen kenne, die gerade den GmbH-Mantel suchen, weil sie sich steuerliche und organisatorische Vorteile davon versprechen.

Persönlich halte ich die Verwandlung einer Einzelfirma in eine GmbH nicht für sehr sinnvoll. Bei einer Mehrpersonenfirma wie Timecode beurteile ich aber die Vermeidung der Klärung formaler Grenzen, wie sie in der GBR („Gesellschaft bürgerlichen Rechts“ entspricht der „einfachen Gesellschaft“ in der Schweiz) und in der locker (un-)definierten Bürogemeinschaft mit einer weiteren Produktionsfirma angelegt ist, als äusserst schädlich. Dies hat sich auch schon bei der Trennung von einem ursprünglichen dritten Mitglied der Firma erwiesen. Trotz der dabei aufgelaufenen Kosten und trotz der unbeschränkten persönlichen Haftung für alles was die GBR tut (also auch für mein Darlehen), scheint eine GmbH-Gründung für niemand in Frage zu kommen.

Folgende Begründung wird angeführt: eine GmbH ist gewissen formalen Anforderungen unterworfen, man muss eine seriöse Buchhaltung machen und diese von einer unabhängigen Revisionsstelle revidieren lassen. Die unumschränkte Freiheit und Machtbefugnis der Firmeneigner wird somit eingeschränkt und sie müssen etwas mehr Reibereien mit der deutschen Bürokratie auf sich nehmen. Mir scheint, dass die Allgemeinheit bei einer Firma, an deren Funktionieren das Auskommen mehrerer Menschen hängt, den Anspruch hat, dass sich dieser Betrieb an gewisse überprüfbare und klar abgegrenzte Regeln hält. Obwohl die Haftung der Firma nicht mehr unbeschränkt ist, verdient eine GmbH mehr Vertrauen bei ihren Kunden, weil sie transparenter ist, und die Eigner nicht von heute auf morgen nach Mexico verschwinden können. Der Machtverlust der Eigentümer ist also vielleicht zu verschmerzen. Die GmbH würde durch vollständige Ausweisung aller interner Kosten auch rechtzeitig bemerken, wann sie auf den Konkurs zusteuert, während eine mir bekannte undefinierte einfache Gesellschaft hier in Zürich, bis zu zwei Jahre lang vermeiden konnte, das Auflaufen von unhaltbaren Verlusten überhaupt wahrzunehmen und dann natürlich in einem sehr schmerzhaften Konkurs landete. Die Eigentümer können ja die Verantwortung gar nicht vollumfänglich tragen, wenn die jährlichen Umsätze die Leistungsfähigkeit der Einzelnen weit übersteigen.

Die GmbH kann mit jedem Mitarbeiter, vom Lehrling bis zum Geschäftsleiter einen Arbeitsvertrag machen und muss natürlich die entsprechenden Sozialleistungen entrichten. Rein juristisch müsste die GBR dies auch und ich halte es für äusserst problematisch, wenn man glaubt, diese Kosten einsparen zu können, indem die GBR-Eigentümer keinen eigentlichen Lohn beziehen, sondern als Selbständige im Auftragsverhältnis arbeiten und für ihre eigene Sozialabsicherung besorgt sind. Als Lohnempfänger würden sie zudem in den Genuss des Schutzes durch die Arbeitslosenkassen kommen und hätten geregelte krankheitsbedingte Arbeitsausfall- und Rentenansprüche und vieles mehr. Die Bürogemeinschaft würde nicht in Kleinigkeiten (vom Bier bis zur Putzfrau) durch freiwillige Leistungen alimentiert, die so schlecht abgesprochen sind, dass immer jemand subjektiv den Eindruck haben muss, er komme dabei zu kurz (WG-Syndrom). Da alle Mitarbeiter der GmbH wüssten, dass der Erfolg der GmbH ihr eigener Erfolg ist, würde die tägliche und kleinliche Furcht vor der Konkurrenz weitgehend in den Hintergrund treten. Wenn ich ehemaligen DDR-Bürgern, wie Dörte und Jochen zuhöre, habe ich manchmal den Eindruck, es sei allen klar, dass es bei jedem Vertrag (Gesellschaftsvertrag, Arbeitsvertrag, Mietvertrag, Produktionsvertrag) immer eine Verlierer- und eine Gewinnerseite geben müsse. Die Möglichkeit, dass alle gewinnen könnten, wird in diesem Verständnis eines Primitiv-Kapitalismus, wo es nur darum geht, wer wen über den Tisch zieht, schon gar nicht erst in Betracht gezogen.

Schliesslich könnte man im Rahmen einer GmbH auch sukzessive mit Festangestellten arbeiten, wo man bisher für jede Produktion Freiberufliche beizieht. Das Risiko, dass solche Leute dann bezahlt werden müssen, auch wenn keine Aufträge vorliegen, wird kompensiert dadurch, dass diese Lohnempfänger volle Solidarität zur Firma hätten und zu einem deutlich tieferen Ansatz arbeiten würden. Der Entscheid, ob man sich leisten kann, einen Autor oder einen Kameramann fest anzustellen wäre allein davon abhängig zu machen, wie gross die zu erwartenden Schwankungen bei der Auslastung sind. Ausserdem müsste man natürlich die Risiken der relativ problematischen Arbeitsgesetzgebung in Deutschland berücksichtigen. Wenn die GmbH-Frage in Deutschland für mich dann doch einmal ernsthaft würde, müsste ich mich wohl etwas in das deutsche Gesellschaftsrecht und Arbeitsrecht einarbeiten, um herauszufinden, wie man innerhalb der gesetzlichen Leitplanken optimal handeln kann.

Wenn ich die Struktur einer Kleinfirma nicht für vorteilhaft hielte, hätte ich diese Struktur bei meiner eigenen Firma natürlich nicht gewählt. Mir ist klar, dass diese Struktur alleine noch lange keine Garantie für die Lösung aller möglichen Probleme darstellt. Im Fall Timecode halte ich aber dafür, dass die realen Verhältnisse und die formalen Verhältnisse besser übereinstimmen würden, wenn man sich zu einem solchen Schritt entschliessen würde. Möglicherweise ist jedoch der Hauptgrund für die vehemente Ablehnung der GmbH-Struktur das Wissen, dass die Mitglieder der Bürogemeinschaft an der Feurigstrasse gar keine gemeinsamen Ziele verfolgen. Dann wäre aber unbedingt auch die Form der GBR möglichst bald aufzugeben und das Ganze in eine Bürogemeinschaft von Einzelfirmen zu verwandeln, die sich fair an den gemeinsamen Kosten beteiligen.


Während Jochen und ich am Vormittag noch allein in der Firma sind, besprechen wir mögliche Pläne von Jochen. Ihm geht es darum, sich etwas von der einseitigen Abhängigkeit von den öffentlich-rechtlichen Sendern zu befreien. Abschweifungen in die Bereiche Industriefilm, Spielfilm, Fernsehanstalten waren bisher nicht von Erfolg begleitet und haben auch gezeigt, dass Jochen (und Timecode?) vielleicht auch nicht so interessiert ist, an diesen alternativen Produktionszweigen. Ich hatte statt dessen vorgeschlagen, man könnte einmal einen längeren Dokumentarfilm über Juden in Deutschland nach 1945, mit besonderem Gewicht auf dem Thema Juden in der DDR und in den neuen Bundeländern machen, und dafür vielleicht auch Sendeanstalten jenseits des Atlantiks zu gewinnen. Die Historikerin Erica Burgauer, die wir beide kennen und die eine Studie zu diesem Thema in der Reihe Rohwohlts Deutsche Enzyklopädie publiziert hat, könnte für die Recherchen beigezogen werden. Eventuell hätte sie sogar gewisse nützliche nordamerikanische Kontakte. Bei dieser Idee fällt erschwerend ins Gewicht, dass DDR-Bürger auch bis heute oft nur sehr wenig Englisch können. Dieses Hindernis kann aber mit den Ressourcen von Timecode umschifft werden.

Ein weiteres Thema ist die immer neu auftauchende Frage der „Technik“. (Von Honza in Mainz habe ich gelernt, dass der Unterschied zwischen einem ostdeutschen DEFA-Kameramann und einem westdeutschen beim ZDF darin besteht, dass der ostdeutsche „Technik“ nennt, was der westdeutsche als „Kamera“, „Schnittplatz“, oder „Ausrüstung“ bezeichnet.) Jochen glaubt einerseits, es sei wichtig, möglichst moderne und teure digitale Schnitttechnik anzuschaffen. Ein Teil dieses Glaubens ist darauf zurückzuführen, dass er eben auf die Dauer nicht mit der Blickpunkt-Produktion zufrieden ist, sondern auch für trickaufwendige Werbefilme o.ä. gerüstet sein will. Als ehemaligem DEFA-Mitarbeiter und GBR-Miteigentümer will es ihm nur schwer in den Kopf, dass moderne Technik zwar ein Renommierpotential darstellt, dass aber jede in eine Maschine investierte Mark den Menschen fehlt und dass man nur dann Technik kaufen sollte, wenn man sie unbedingt braucht. Da sich offensichtlich momentan relativ viele dieser ostdeutschen Einzelkämpfer unter selbstmörderischen Bedingungen überausgerüstet haben, ist nach seinen eigenen Angaben die Miete von „Technik“ jeder Art gar nicht so schwer. Wenn man selber etwas kaufen würde, wäre man gezwungen, die Überkapazität unter starkem Konkurrenzdruck zu vermieten. Dabei fällt erschwerend ins Gewicht, dass für das Schneiden keine Räumlichkeiten mit separatem Eingang und separater Telefonleitung zur Verfügung stehen und somit die Vermietung in den heutigen Räumen eine zu hohen Personalaufwand nach sich ziehen würde.

Ich votiere dafür, dass man sich grundsätzlich entscheiden soll, ob man von Technikvermietung leben will, oder vom Filmemachen. Wenn man ernsthaft vermieten will, soll man das professionell tun. Dann muss sich jemand hauptberuflich um den Maschinenpark und die Vermietung kümmern, es müssen separate Räume gemietet werden und es muss ziemlich viel Geld aufgenommen werden, weil sich das Ganze erst dann lohnt, wenn das Volumen gross genug ist.

Jochen will mir eigentlich nicht glauben, dass die preisgünstige Produktion auf billiger Technik in jeder Hinsicht ökonomisch der perfekten Technik vorzuziehen ist. In einer GmbH könnte ich ihm das wenigstens anhand der Buchhaltung nachweisen.

Nach dem Mittagessen taucht Gerlinde Böhm, das dritte Mitglied der Bürogemeinschaft, auf. Mir waren an der Klingel und an der Tür schon die Anschriften aufgefallen, wo neben „Timecode“ jeweils noch von der „Gerlinde Böhm Filmproduktion“ die Rede war. Sie produziert eigene Dokumentarfilme, beteiligt sich an der Bürogemeinschaft zu einem Drittel, hat ihre eigene billige digitale „Technik“ mitgebracht und ist an der Firma Timetec mitbeteiligt. Die Firma Timetec wurde von Jochen, Udo, Gerlinde und einem weiteren Gesellschafter gegründet als Pool für „Technik“. Hier liegt also schon eine waschechte GmbH vor. Grundsätzlich könnte man über diesen Trägerverein, die Abgrenzung zwischen Einzelkämpfergemeinschaft und Gesellschaft mit Angestellten, organisch langsam verschieben. Wenn der vierte Gesellschafter nichts dagegen hätte, könnte man zum Beispiel wenigstens die gemeinsame Büroinfrastruktur, die Vermietungen und den Lohn der Person, welche das vermietete Material betreut und die Vermietungen administrativ abwickelt über diese Firma laufen lassen.

Gegen Abend erscheinen weitere externe Mitarbeiter, die von einem Drehtag zurückkommen. Zum zweiten Mal in meinem Leben befinde ich mich im selben Zimmer mit einem anderen Hartwig (er ist Kameramann). Zum ersten Mal in meinem Leben, sitze ich sogar mit einer Gerlinde und einem Hartwig am gleichen Küchentisch. Es stellt sich heraus, dass Gerlinde nicht nur denselben Vornamen hat, wie meine Schwester, sondern auch denselben Jahrgang und denselben zweiten Vornamen ...

Beim Konsum von Schnaps und Bier lädt Jochen alle ein, eine CD anzuhören, die er vor kurzem von Gerlinde erhalten hat. „Die Schalmei hat immer recht“ ist ein kabarettistischer Zusammenschnitt von Tondokumenten aus den 40 Jahren DDR mit Ulbricht-Zitaten, Pionier-Gesängen etc. Die „Ossies“ amüsieren sich über die Veräppelung ihrer Politiker und trällern wehmütig ihre Kindergartenlieder mit, während ich mir als Wessi etwas fehl am Platz vorkomme, weil ich dauernd an denjenigen Stellen lache, die die Ossis gar nicht lustig finden und umgekehrt die Anlässe für deren Gelächter mir eher deplaziert vorkommen. Gerlinde, die aus der Gegend zwischen Augsburg und Ulm stammt, scheint bei diesem Film ähnlich falsch synchronisiert zu sein. Hier eröffnen sich die wahren kulturellen Gegensätze und Gemeinsamkeiten zwischen Ost und West.

Da Udo weder, wie ursprünglich angekündigt, um drei noch um acht erscheint, begibt man sich ins nahegelegene mexikanische Restaurant zum Abendessen. Dort erzählt uns der Kameramann T., dessen Lachen jeweils mit den Ossis synchron war, wie schlecht es um die Persönlichkeitsrechte bei RTL2 bestellt ist. Die Moral der Geschichte sollte ursprünglich wohl sein, dass dieser Sender so mächtig und unmoralisch ist, dass man als kleines Würstchen sowieso keine Chance hat, auf seinem Persönlichkeitsrecht zu bestehen. Gegen diese Moral erheben Gerlinde und ich lautstark Einspruch. Die Mythologie und Mentalität, „die machen ja doch mit einem, was sie wollen“, ist leider in den neuen Bundesländern weit verbreitet. Sie beinhaltet ein völliges Ablenken von der eigenen Verantwortung und macht die deutsche Wirtschafts- und Justizwirklichkeit schlechter als sie ist.

T. erzählt den Fall dann genauer. Es geht darum, wie er jemanden gefilmt hat, der jemand anderem eine Ohrfeige gab. Schon bei der Frage, wie ethisch es sei, in einem solchen Moment weiterzudrehen, hält er sich länger und etwas selbstmitleidig auf. Wenn man für RTL2 arbeite, könne man da nicht zimperlich sein. Irgendwie ist er offensichtlich auch mächtig stolz darauf, für einen so skrupellosen Laden arbeiten zu dürfen und damit nicht mehr zu den Jungen, sondern zu den richtigen Männern zu gehören, die dort dabei sind, wo das richtige (schmutzige) Geld gemacht wird. Jedenfalls kam dann der Gefilmte zu einem späteren Zeitpunkt auf ihn zu und wollte mit ihm Streit anfangen beziehungsweise das Filmmaterial mit der Ohrfeige ausgehändigt erhalten. Bei dieser Diskussion wurden T. und der Ohrfeiger von einem anderen Kamerateam gefilmt und ein paar Sekunden ist T. mit Gesicht im Film kenntlich. Auch hier beschleicht den Zuhörer das Gefühl, dass ihm der Sekundenruhm im RTL2 zwar peinlich ist, ihm aber auch schmeichelt. Er behauptet, er habe sofort Einspruch gegen die Ausstrahlung erhoben und habe den Bescheid erhalten, er könne nichts dagegen machen. Weiter gibt er allerdings zu, dass ihn von einer ernsthaften Durchsetzung seines Persönlichkeitsrechts auch die Überlegung abgehalten habe, dass er dann als Kameramann in Zukunft von diesem Sender nicht mehr angeheuert würde.

Jochen geht offensichtlich die Wessi-gegen-Ossi-Allianz auf die Nerven, die sich plötzlich zwischen Gerlinde und mir gebildet hat. Dennoch bestehe ich weiter darauf, dass man nicht so billig auf die skupellose Rechtsbeugung durch die Mächtigen pochen darf. Wenn ich kurz nach der Wende einer Reihe von Praktikanten in meiner Firma Einblick in das Funktionieren dessen, was man so gemeinhin Kapitalismus nennt, zu geben versuchte, war dieses für mich eines der wichtigsten Lernziele, die ich zu erreichen hoffte. Auch Jochen hat in jener Zeit während den Recherchen für einen Film, der allerdings nie zustanden kam, in meinem Büro eine ganze Reihe von Aspekten des kapitalistischen Alltags in meinem Büro kennengelernt und ich hatte gehofft, er hätte verstanden, wie man sich auch in diesem Alltag anständig und menschenwürdig durchschlagen kann.

Gerlinde bietet dann an, dass sie mich in ihrem Twingo noch bis zur nächsten S-Bahn fährt. Unterwegs machen wir dann noch halt in einer Kneipe bei einem Glas Rotwein und wundern uns über die Ost-West-Empfindlichkeiten, in die wir gerade eben hineingerutscht sind. Es wird relativ früh, bis ich in der Sophienstrasse bei Rotraut eintreffe.


Mittwoch, 1.10.97 Bonn

Frank Winkler wollte gern einen Teil meiner Zugfahrt nach Bonn mit mir gemeinsam fahren. Da er nach Jena muss, nehmen wir gegen neun den Zug von Berlin Lichtenberg nach Frankfurt, aus dem er dann gegen Mittag in Naumburg in einen Zug nach Jena umsteigt, während ich via Frankfurt nach Bonn gondle.

Im Zug dreht sich das Gespräch diesmal um Bekannte und um Politik. Ich erzähle ihm von Gustav Furrer und der Art und Weise, wie er ungerechterweise Opfer eines Justizskandals um Oberst Nyffenegger geworden ist. Im Gegensatz zum Fall T. kann man hier meiner Meinung nach von einem echten Opfer der Mächtigen und der Medien sprechen. Höchstens könnte man Gustav Furrer hier noch entgegen halten, dass, wer mit der Eidgenössischen Militärdirektion aus einem Fondue-Caquelon essen will, eine lange Gabel haben sollte, besonders wenn es um Sicherheitsprobleme geht, für welche die ehrgeizige Bundesanwältin Carla del Ponte mitzuständig ist, die sich nicht scheut, vor versammelten Medien unsubstantiierbare Vorverurteilungen und Globalanschuldigungen zu verbreiten.

Auch mein Sabbatical und die Ablösung von Beni Müller im Verwaltungsrat der Enter AG kommen zur Sprache. Es ist doch immer wieder erstaunlich, wie gross der Prozentsatz der durchaus wichtigen Ereignisse ist, über die man nur mündlich ausserhalb der Medien halbwegs verlässliche Auskunft erhalten kann. Ich will hiermit nicht unterstellen, dass meine Darstellungen weniger einseitig waren, als etwa ein Zeitungsbericht. Sie enthielten aber bedeutend mehr Einzelheiten und sind für Frank sehr viel einfacher überprüfbar, indem er sich an andere gemeinsame Bekannte wenden kann. Schliesslich kommt pro Tatsache bedeutend mehr reales Material zur Sprache als dies heutzutage bei den Medien üblich ist, die alle mit dem Platz und damit mit der Ausführung der Hintergründe geizen.

Schliesslich erzählt er mir mit mindestens halber Bewunderung von den Aktionen, die der ehemalige badische Politiker Späth an der Uni Jena gestartet hat. Da ich nicht viel über Späth weiss, ausser dass er bei uns Linken einen schlechten Ruf hat, enthalte ich mich eines Kommentars.

Von Naumburg bis Bonn döse ich etwas, um das Schlafmanko auszugleichen. Das Wetter draussen scheint immer noch standhaft sonnig zu sein.

Gegen abend treffe ich in Bonn ein und werde von Mirek abgeholt. Ich kannte ihn vorher nicht und erfahre nun, dass er die ersten beiden Bücher von Mirka auf deutsch übersetzt hat und mit ihr zusammenwohnt. Bei mir im Adressbuch steht immer noch „Mirka Ochova“. und „Vendulka Cechanova“. Offensichtlich hat Mirka die tschechische weibliche Endung schon lange abgelegt und ist im Telefonbuch wohl unter „Och“ zu finden. Bei Vendulka erledigt sich das Problem, da sie jetzt nach der Heirat wohl sowieso anders heisst. Ausserdem nennt Mirek Mirka immer Sheila. Auch auf ihrer Visitienkarte mit der Adresse der Friedrich-Ebert-Stiftung steht dieser Vorname, den ich früher als ihren Autorennamen kannte, aber nie verwendete. Zuhause bei Mirka treffen wir sie, die gerade von der Arbeit zurück ist.

Wie ich bei der Feier zum 70. Geburtstag meiner Eltern erfuhr, brachte ich meine Mutter im August 1968 in ziemliche Verlegenheit, als ich aus der Schule eine Anmeldeformular nach Hause brachte, mit dem Private aufgerufen wurden, Unterbringung für tschechische Flüchtlinge zur Verfügung zu stellen. Aus dieser eher naiv-unschuldigen Handlung ergab sich, dass dann mehr als ein halbes Jahr Priska und Joschka Sadek bei uns wohnten. Ihre Kinder Mirka und Honza waren zeitweilig in der Umgebung (Hedingen?) untergebracht, während der dritte Bruder Pepik, meiner Erinnerung nach, schon in London war, wo er heute noch lebt. Mirka hatte in Prag als Schriftstellerin und Autorin von Fernsehsendungen für Kinder gearbeitet. Sie war damals mit Vladja Cechan verheiratet, der als Dramaturg beim Fernsehen arbeitete. Sie und Vladja fühlten sich in der Schweiz etwas verloren. Neben dem Kulturschock des kapitalistischen Systems spielte das Problem des Abgeschnittenseins von der Muttersprache für die Schriftstellerin sicher eine grosse Rolle. Jedenfalls zogen Mirka und Vladja in den frühen Siebzigern wieder nach Prag. Mirka kam jedoch kurz drauf wieder in den Westen und zog nach Bonn. Dort hatten ihre Eltern dank den SPD-Verbindungen von Joschka inzwischen Fuss gefasst. Dort arbeitete sie in der Friedrich-Ebert-Stiftung in der Bibliothek und an ihrer Doktorarbeit über das Leninbild im sowjetischen Film. Vor etwa vier Jahren erschien dann ihr erstes Buch auf deutsch: Das Salz der Erde und das dumme Schaf. Obwohl das tschechische Original in den frühen Siebzigern in Prag geschrieben ist, handelt es sich um ein äusserst erfrischendes, heiteres Buch über das Leben eines Mädchens am Anfang seiner Pubertät zusammen mit einem ziemlich anarchistisch veranlagten Grossvater im Sozialismus, das auch nach der Wende noch „funktioniert“. Ich hatte es Rotraut vor zwei Jahren geschenkt und sie hatte es erst vor einer Woche gelesen, weil sie inzwischen Mirka kennengelernt hatte. Es hat ihr offensichtlich sehr gut gefallen.

Bei einem reichlichen Abendessen plaudern wir unbeschwert. Sie hat sich vor zwei Wochen blendend mit dem dreijährigen Sohn Joris meiner Schwester Gerlinde unterhalten und wünscht ihn sich „leihweise“ zu Besuch. Wir vergleichen unsere Erinnerung an die Zeit um und nach 1968 miteinander. Sie erinnert sich voll Dankbarkeit an die tragende Rolle, die meine Mutter für sie und ihre Tochter Vendulka gespielt hat.

Seit der ersten deutschen Publikation ist ihre literarische Produktion ernsthaft ins Rollen gekommen. Ihr zweites Buch „Karel, Jarda und das wahre Leben“ ist auch von Mirek (Miroslav Novak) übersetzt worden. Als ich es vorgestern im Zug las, habe ich mich wieder einmal in Öffentlichkeit unmöglich gemacht, weil ich mehrfach in lautes Lachen ausbrach, das zum Teil peinlich lange anhielt. Es handelt von der Grundfrage, die ich auch auf dieser Deutschlandreise immer wieder zu verfolgen versuchte: Wie kann man nach der Entlassung aus dem Sozialismus ein strammer, aufrechter Kapitalist werden? Ihr drittes Buch hat sie nun gleich auf deutsch geschrieben und momentan arbeitet sie an einem Theaterstück, wo es um Jan Hus, den Scheiterhaufen und den Sinn von Heldentum geht. Ein bisschen darf man dabei vielleicht auch an Jan Pallach denken. Ich bin gespannt auf das Resultat und wünsche ihr viel Glück bei allen ihren Projekten.


Donnerstag, 2.10.97 Mainz

Mirek fährt mich zum Bahnhof und ich treffe kurz nach Mittag in Mainz ein. Dort rufe ich Mirkas Bruder Honza beim ZDF an. Er hat nach 1968 in Israel Kameramann gelernt und ist seit langer Zeit in dieser Funktion beim ZDF tätig. Vor kurzem hat er in den „Innendienst“ gewechselt, wo die Arbeitszeiten geregelter sind, wo man aber den Drachen der Bürokratie nicht mehr so leichtfüssig entkommen kann, wie draussen beim Dreh.

Honza heisst im ZDF-Telefonbuch Jan Dan Och. Irgendwie erinnert mich das Vornamengewusel bei den Ochs an die indische Familie, die wir in Trinidad kennengelernt haben, wo jeder einen allgemein bekannten Rufnamen und einen eigentlichen Namen besitzt, den aber nur sehr vertrauenswürdige Personen wissen, da seine Kenntnis Macht über den Träger des Namens verleiht.

Honza zeigt mir als erstes sein Büro. Dort wird mit einigen Mitarbeitern halb inoffiziell das anstehende EDV-Problem diskutiert, das ihnen intern gerade viel Sorge bereitet. Ich stelle relativ schnell fest, dass es sich eher um ein politisches als um ein technisches Problem handelt und schlage ein entsprechendes Vorgehen vor (Erstellung eines Software-Review). Aus der Reaktion der Beteiligten entnehme ich, dass sie es für möglich halten, dass man auf diese Weise etwas bewegen kann und freue mich über die erfolgreiche kurze „Consulting“-Einlage. Ich bin gespannt zu hören, ob das Vorgehen auch zum Ziel geführt hat.

Darauf führt mich Honza durch einige Studios des ZDF, sodass mir Fernsehunkundigem nun auch diese Welt nicht mehr völlig fremd ist. Da der nächste Tag ein Freitag und ein Feiertag (Tag der deutschen Einheit) ist, befinden sich alle heute schon in der Freitagstimmung. Honza macht also auch etwas früher Schluss und fährt mich noch an meinem alten Wohnort am Fort Elisabeth 5 vorbei, wo ich mein fünftes und sechstes Altersjahr verbrachte. Hier erkenne ich die Häuser und die Umgebung sehr gut. Im Park vor dem Haus finde ich die Spuren der früher einmal dort vorhandenen Planschbecken. Auch die Würstchenbude an der Ecke heisst noch „Am Planschbecken“.


In den labyrinthischen von Hecken und Rosenbüschen umgebenen Ecken des Parks zwischen den beiden Planschbecken, bin ich 1958 einmal fast mit einem „Unhold“, wie es im Schweizer Zeitungsdeutsch heisst, in nährere Berührung gekommen. Ich erinnere mich an einen älteren Herrn, der an einem Sommertag einem etwas jüngeren Spielkameraden und mir Schokolade anbot. Wir hatten selbstverständlich eingeschärft gekriegt, nie etwas von Fremden anzunehmen und setzten uns prompt über dieses Verbot hinweg. Der Herr forderte uns auf, mit ihm vom Planschbecken in die rosenbewachsenen, kleineren Nebengänge zu gehen und setzte sich dort auf eine Bank. Dann begann er, meinen Kameraden dazu zu überreden, wir sollten mit ihm nach Hause kommen, wo es neben Süssigkeiten auch Spielzeug (elektrische Eisenbahn?) geben würde. Ich glaube, mir war ziemlich klar, dass ich nirgendwohin mitgehen würde, von wo ich nicht mehr heimfinden könnte. Es kam aber sowieso nicht soweit, da plötzlich meine Mutter wie eine Furie zwischen uns fuhr, uns beide bei der Hand packte, meinen Spielkameraden, der sich weigerte mitzukommen, ohrfeigte und uns heimschleppte. Ein pensionierter Arzt im fünften Stock hatte die Bewegungen im Park von oben genau beobachtet, sie alarmiert und mit Zeichen von seinem Balkon aus zu uns gelotst. Darauf war ein grosses Hallo los. Die Polizei kam. Der Mann war natürlich nirgends mehr zu finden. Wir wurden etwas befragt. Meine Mutter durfte sogar mit dem Polizeiauto zum Polizeiposten fahren, wo sie ihre Aussage machte. Einige Wochen darauf sah sie den betreffenden Herrn beim Planschbecken. Sie bat Nachbarinnen, die Polizei zu alarmieren, während sie das Subjekt im Auge behielt. Soweit ich weiss, wurde der Betreffende an jenem Nachmittag dank ihrer Aktion geschnappt. Es handelte sich tatsächlich um jemanden, der schon eine Weile in der Umgebung sein Unwesen getrieben hatte.

Jahrelang weigerte sich Lindi, meine Schwester, in ein schwarzes Auto zu steigen. Nach ihrer Erfahrung, landete man danach immer im Krankenhaus. Speziell kann ich mich an meine Mandeloperation in Mainz erinnern, wo man mir Lachgas(?) zum Einatmen gab und ich mitten beim Schnippeln mit einem metallischen Geschmack im Hals aufwachte und dann, nachdem die blutige Schere aus meinem Mund entfernt worden war, aufgefordert wurde, das Blut in einen Eimer zu spucken. Dann boten sie mir drei Tage lang Eis an, und als ich es endlich hätte runterschlucken können, gab es dann keins.

Im Vergleich zu Clausthal war Mainz eine Grossstadt und die Häuser am Fort Elisabeth waren richtige (5-stöckige) Hochhäuser. Es fanden sich eine ganze Menge Hochhauskinder (3-12 Jahre alt) zusammen, die auf den „Wiesen“ vor und hinter dem Neubau spielten. Dort waren noch keine so gepflegten Rasenstücke wie heute, sondern eine eher eine wild bewachsene, verkraterte Naturlandschaft. Man munkelte von einem Bunker in der Mitte. Ich bin nicht sicher, ob es sich wirklich um ein Überbleibsel aus dem Krieg handelte. Das Aufkommen der neuen und noch seltenen Autos äusserte sich auch darin, dass an der Ecke regelmässig am Freitag abend ein Autounfall stattfand. Dies war immer eine grosse Attraktion für Hausfrauen und Kinder. Wir strömten zusammen und schauten stundenlang zu, wie Verletzte aus dem Blech befreit wurden und wie die Autos mit Flaschenzügen aus ihrer Verkeilung gehoben wurden. An brennende Fahrzeuge kann ich mich nicht erinnern.

Der Schrank und die Sessel in Riom stammen aus Mainz. Diese Exemplare der klassischen Nierentischästhetik der Fünfzigerjahre gehörten zu den Neuanschaffungen in der Mainzer Wohnung. An diesen Nierentischen sassen dann meine Eltern mit ihren Freunden, den Weissmanns, besonders um die Faschingzeit und tranken Sekt. In Mainz lernten wir auch dieses wichtige Ereignis gebührend zu würdigen und ich erhielt meine erste Knallkapselpistole. Die Innenstadt von Mainz war damals noch ziemlich zerstört, wie auch aus dem Karnevalslied aus der Zeit hervorgeht, von dem wir noch lange eine 45er Platte besassen. (Deshalb kann ich es heute noch auswendig.)


1.

Bei all den kleinen Kinderlein

Gibt’s manchen grossen Schmerz.

Hats Püppchen was am Fingerlein

Bricht Mutti fast das Herz.


Dann kommt die Mama schnell herbei,

Nimmts Kindchen auf den Schoss,

Und sagt bedauernd ei, ei, ei!

Ja was hat mein Kindchen bloss,


Bewegt sie es ans Herz hinzieht,

Und singet ihm zum Trost das Lied:


Heile, heile, Gänschen,

S’wird schon-e-wiedder guud.

S’Kätzche hat en Schwänzchen,

S’wird schon-e-wiedder guud.

Heile, heile, Mausespeck,

In hunnert Jahrn, is alles weg.


2.

Und sind die Kinder grösser dann,

Erwacht im Herz die Lieb.

Es dreht sich alles um den Mann,

Den bösen Herzensdieb.


Doch wenn das Herz in Flammen steht

Voll Liebe, Lust und Glück,

Der Mann sehr oft von dannen geht,

Lässt weinend sie zurück.


Dann singt die Mutter angst und bang

Das Lied, das sie dem Kind einst sang:


Heile, heile, Gänschen ...


3.

Wär ich einmal der Herrgott heut,

Dann wüsste ich nur eens:

Ich nähm in meine Arme weit

Mein arg zertrümmert Meenz.


Ich streichelt’ es ganz sanft und mild

Und sagt’ hab nur Geduld.

Ich bau dich wieder auf, geschwind,

Ja du warst doch gar nicht schuld.


Ich mach dich wiedder wunderscheen,

Du kannst, du derfst nit undergehn ...


Heile, heile, Gänschen ...


Die Behandlung der Schuldfrage in der dritten Strophe ist sicherlich bemerkenswert.

Zufällig finde ich heute am 15.10.97 in John Hulmes „De Translatione Nursery-Rhymes“, Libelle-Verlag, 1996, Lengwil am Bodensee, ISBN 3-909081-46-0 die folgende Verschen:


Highly, highly gain shun(1),

Cyst shon Veda(2) coot.

Ketch(3) hen hatters fen shun(4),

Cyst shone Veda coot.


1) Er soll sich vom Materialismus fernhalten.

2) Name der vier ältesten Schriftdenkmäler (etwa 1500 bis 600 v. Chr.), die religiöse Literatur enthalten.

3) Kleines zweimastiges Küstenschiff

4) Die Hutmache vermeiden das Marschland.


Zum Mausespeck fällt mir noch ein, dass wir in Mainz unsere weissen Mäuse (zum Geburtstag?) erhielten. Mein Vater muss diese wohl in der Uni bei den Biologen erhalten haben. Jedenfalls stellte sich bald heraus, dass die Tiere nicht sehr viel von den Spielen hielten, die wir mit ihnen durchführten. Sie rannten jeweils die wunderbarsten Bauklotzhäuser, in denen wir sie wohnen lassen wollten, einfach um. Dabei fielen ihnen die Bauklötze natürlich auf den Kopf. Dafür fanden wir bald heraus, dass es sich mitnichten um zwei Männchen handelte, sondern um ein Pärchen. Nach ein Paar Wochen hatten wir also sechs weisse Mäuse. Da unsere Mäuse der Neid der Hochhauskinder in der Nachbarschaft waren, war es gar nicht so schwierig, diese loszuwerden. Die weissen Mäuse vermehrten sich aber sowohl bei uns, wie bei unseren Nachbarn und in den Sommerferien, verfielen die Mütter von stolzen Mäusebesitzern auf die Idee, ihre weissen Mäuse während der Ferien bei uns, den ursprünglichen Verursachern der Verunreinigung, zu parkieren. Wir hatten dann diverse Käfige und zwischen 20-30 weisse Mäuse im Badezimmer. Ich weiss nicht mehr, wie man nach den Ferien die Tierchen zusammen mit dem neu entstandenen Nachwuchs den verschiedenen Eigentümern wieder aushändigte. Jedenfalls verschwanden die weissen Mäuse bald darauf aus meinem Leben.

Neben dem Fasching waren die katholischen Feiertage eine sehr eindrückliche Sache. Ich erinnere mich an ein Inszenierung der Legende des heiligen Martin, die auf offener Strasse, wohl am Martinstag, in zunehmendem Schneetreiben stattfand. Auch der St. Nikolaus war sehr ungewohnt und furchtgebietend. In Clausthal hatte er keine Bischofsmütze angehabt.

Im Kaufladen an der Ecke begann auch meine Laufbahn als Krimineller. Derselbe Spielkamerad, der mir beim Unhold schon fast zum Verhängnis geworden war, hatte eines Tages festgestellt, dass dort die Glasabdeckung der Bonbons vorne bei der Auslage in der Ecke abgebrochen war, und dass man, wenn die Bedienung gerade nicht schaute, mit kleinen Fingerchen problemlos an den begehrten Inhalt herankam. Er zeigt es mir zuerst, indem er zusammen mit meiner Mutter und mir den Laden betrat, als wir Milch holten. Dann beschlossen wir, nicht bis zum nächsten Tag zu warten, sondern mit beliebigen, vage bekannten Hausfrauen jeweils mit in den Laden zu gehen, als ob wir dazu gehörten, und uns weiter zu versorgen. Leider versiegte diese Quelle ziemlich schnell. Dem Personal war mindestens aufgefallen, dass wir dauernd dort herumlungerten. Eventuell waren wir auch beim Klauen beobachtet worden. Jedenfalls wusste meine Mutter dann plötzlich über alles Bescheid. Sie regte sich furchtbar auf und war auch ein bisschen hilflos, was in einem solche Fall zu tun sei. Am Ende setzte es Stubenarrest für einen oder zwei Tage. Nachdem ich den abgesessen hatte, wusste ich, was dieses neue Wort hiess. Als eher selbstgenügsames Kind empfand ich es eher als sanfte Strafe, während einem Tag allein zuhause zu sein.


Nach diesem Ausflug in die Vergangenheit fährt mich Honza zu sich nach Hause. Dort lerne ich seine Frau Irene und seine Tochter Laurie kennen. Irene gibt Turnen und hatte offensichtlich gerade einen stürmischen Tag hinter sich. Sie musste sich bei einer eher renitenten neuen Klasse mit viel emotionellem Aufwand zuerst einmal durchsetzen. Nach ihrem Bericht scheint ihr das zwar gelungen zu sein, hat sie aber ziemlich erschöpft.

Beim Abendessen erzähle ich ein bisschen von meiner Arbeit und meiner Reise. Laurie hat Mühe, zu glauben, dass ich keinen Fernseher und kein Auto besitze. Sie geht in ein katholisches Gymnasium und hat gerade mit Griechisch angefangen.

Diesmal komme ich immerhin knapp vor Mitternacht ins Bett. Das kumulierte Schlafmanko hat schon beträchtliche Ausmasse erreicht.


Freitag, 3.10.97 (Tag der deutschen Einheit), Zürich

Honza fährt mich am Vormittag in die Stadt und macht eine kleine Führung. Mainz ist ein sehr hübsches Stadtchen, das mich in seiner Grösse und seiner Ambiance an Basel erinnert.

Nach einem kurzen Lunch im Lokal einer Italienerin, die Honza kennt, steige ich endlich in den Zug und fahre nach hause.

Dort hole ich zuerst mal den Schlaf nach, den ich auf meiner Reise verpasst habe und versuche nun all die Folgen zu verarbeiten. Ich habe Renas Lizentiatsarbeit gelesen, Honzas Film angeschaut, Dörtes Literaturtips verdaut und Mirkas Buch gelesen.

Mein generell eher negatives Vorurteil gegen das wiedervereinigte Deutschland ist natürlich nicht bestätigt worden. Es gibt überall sehr intelligente, vernünftige und sympathische Menschen. Auch ist die Bürokratie und die Bürokratiegläubigkeit höchstens graduell schlimmer als bei uns in der Schweiz. Beunruhigt hat mich dagegen die Tendenz zum Primitiv-Kapitalismus, die ich sowohl in West wie Ost vorzufinden schien. Es scheint allen, wie zu kommunistischen Zeiten, nur um die Grösse der Kuchenstücke bei der Verteilung des Kuchens zu gehen. Wenn jemand mehr erhält, heisst das für alle automatisch, dass die anderen weniger kriegen. Dass bei produktiver Kooperation der Gesamtkuchen vergrössert werden könnte, ist ein Gedanke, der allen ziemlich fern zu liegen scheint. Dieser Primitiv-Kapitalismus ist natürlich auch hier in Zürich nichts Unbekanntes. Hier kenne ich jedoch viele Ecken, wo man gemeinsam an der Vergrösserung des Kuchens arbeitet. Ich hoffe, dass sich diese Nischen auch in Deutschland zusehends vermehren werden.



22 / 22