Digitales Zeitalter

 

 

A: Hast Du Dir also endlich auch einen CD-Plattenspieler gekauft. Früher sagtest Du doch immer, die "abgehackte" digitale Tonqualität sei Dir unerträglich. Ironisch: Warum denn nun diese Konzession an das moderne Teufelszeug?

 

B: Was blieb mir anderes übrig? Auf Vinylplatten alten Stils erscheint keine neue Musik mehr. Ausserdem wird ja jetzt sowieso alles digital. Der Plattenspieler spielt digitale Musik, das Tonband nimmt digitalen Ton auf, Der Fotokopierer digitalisiert Farbbilder, im Fotogeschäft verwandelt man meine Dias für 1 Franken pro Bild in digitale Foto-CD-Bilder, der Videofilm wird am digitalen Schneidtisch verarbeitet und in ein paar Jahren haben wir digitales Fernsehen. Das digitale Zeitalter ist angebrochen. Man muss eben mit der Zeit gehen.

 

A: Zudem ist die akustische Qualität der CDs ja wirklich sehr gut. "Abgehackt" klingt es eigentlich nur, wenn die Aufnahme schlecht ist. Das Abnützungsrauschen meiner Lieblingsplatten gehört der Vergangenheit an.

 

B: Ich versteh diese technischen Unterschiede ja nicht so genau. Ein befreundeter Tonspezialist behauptet immer noch steif und fest, dass digitale Musik tote Musik ist, während analoge Musik lebt. Ich bin wahrscheinlich nicht genügend musikalisch, um da den Unterschied so klar herauszuhören. Aber vielleicht kannst Du mir als Computerspezialist mal sagen, was denn eigentlich so besonders daran ist, dass nun alles digital ist. Beim Übergang vom Schellack zum Vinyl hat man doch auch nicht so ein Gesums darum gemacht.

 

A: Bei den früheren analogen Speichertechniken kamen zwar immer wieder andere Datenträger zum Einsatz, aber grundsätzlich war die Aufzeichnung von Ton und Bild immer kontinuierlich—also analog. Bei jedem Kopiervorgang fand ein Verlust einer Kopiergeneration statt. Keine zwei Schallplatten enthielten exakt dieselbe Information. Das Umkopieren von einem Datenträger auf den anderen—etwa von der Platte auf die Tonbandkassette—war nur möglich über die Rückverwandlung in die ursprünglichen Schallwellen (oder wenigstens analoge Verstärkersignale) und Neuaufzeichnung dieser Wellen.

 

Für die digitale Speicherung werden die Inhalte zuerst in Symbole aus einem Alphabet verwandelt. Es kommt nicht darauf an, ob man unser gewöhnliches Alphabet mit 26 Buchstaben, die zehn Ziffern Null bis Neun, oder die zwei binären Ziffern Null und Eins als Alphabet verwendet. Offensichtlich kann man mit den zehn dezimalen Ziffern die Buchstaben des Alphabets kodieren, indem man einfach 01 für A, 02 für B usw. bis 26 für Z schreibt. Genauso kann man auch die dezimalen Ziffern durch binäre Ziffern kodieren, indem man etwa 0000 für 0, 0001 für 1, 0010 für 2, 0011 für 3 usw. bis 1001 für 9 schreibt. Die binären Ziffern eignen sich für viele elektronische Datenträger am besten für die Speicherung. Unter digitaler Speicherung verstehen wir deshalb heute in binären Ziffern (englisch "digit" heisst ja Ziffer) gespeicherte symbolische Information.

 

B: Da ist also auf meiner CD nicht mehr richtige Musik drauf, sondern nur noch symbolische?

 

A: Auf Deiner CD sind die "richtigen" Tonschwingungen in genaue Messungen der Lautstärke und Tonhöhe verwandelt, diese als Zahlen symbolisch dargestellt und als binäre Ziffern gespeichert worden. Die CD besteht aus einer dünnen reflektierenden Silberschicht, die zwischen zwei schützenden Plastikschichten sitzt. In diese Schicht sind—ähnlich wie bei der traditionellen Schallplatte—auf einer von innen nach aussen verlaufenden Spirale eine Reihe von Vertiefungen angebracht. Diese nennt man englisch "Pits". was Grübchen bedeutet. Diese repräsentieren zum Beispiel das Bit 1. Das Bit 0 wird durch Abwesenheit einer solchen Grube kodiert. Man redet in diesem Fall von "Lands". Diese Hochebenen reflektieren einen dünnen Laserstrahl, den der CD-Player aussendet, während die Gruben ihn zum Teil verschlucken. So kann der Plattenspieler die kodierte Information ent"ziffern" und wieder in Musik verwandeln.

 

B: Ganz klar ist mir das alles noch nicht. Ist denn nun die Telefonleitung analog oder digital?

 

A: Analog natürlich.

 

B: Und warum kann ich denn mit einem Swissmod digitale Nachrichten über die Telefonleitung übertragen? Ich glaube im Telefax machen sie es auch so. Heute verschickt ja kaum mehr jemand einen Brief per Post.

 

A: Dein Swissmod ist eben ein Modem. Das ist so ein Kunstwort und steht für Modulator/Demodulator. Dieses Gerät dient dazu, digitale Information auf einen analogen Kanal zu modulieren. Am anderen Ende benutzt der Empfänger ein ähnliches Gerät, um das analoge Signal wieder zu demodulieren und in digitale Symbole zu verwandeln.

 

In den alten Akustikkopplern, den Urgrossvätern der heutigen Modems, wurden beim Modulieren einfach zwei verschiedene Piepstöne auf verschiedenen Tonhöhen erzeugt, welche für 0 und 1 standen. Der Demodulator versuchte im Kanalrauschen die Piepstöne voneinander zu unterscheiden und wieder in eine Folge von Symbolen zu verwandeln. Wenn die beiden Signaltonhöhen zu nahe beieinander lagen, die Dauer des Piepstons zu kurz war oder das Rauschen mit einem Signal verwechselt werden konnte, kam es zu Fehlübertragungen. Diese wurden einerseits vermieden durch möglichst weitgehende Trennung der Signaltonhöhen und andererseits durch Techniken der Fehlererkennung und Fehlerkorrektur. Wenn eine digitale Ent"ziffer"ung einmal entgleist, ist das Resultat normalerweise barer Unsinn, während bei analogen Übertragungen eher leichte Verzerrungen eintreten.

 

Die modernen Modems funktionieren eigentlich nach dem selben Prinzip wie die alten Akustikkoppler. Nur wird dank der von Gottfried Ungerböck entwickelten Trelliskodierung der Signalraum der über das Telefon übertragbaren Tonhöhen besser ausgenutzt. So können heute Übertragungsgeschwindigkeiten erreicht werden, die man noch vor wenigen Jahren für unmöglich hielt.

 

B: Und wie steht es denn nun mit den Büchern? Ist ein Buch digital oder analog?

 

A: Selbstverständlich digital. Die Buchstaben sind ja die älteste Form der symbolischen Informationsspeicherung, die der Mensch erfunden hat.

 

B: Warum kann ich dann mit meinem Scanner meine Bücher nicht so einlesen, dass ich sie nachher im Word kommentieren kann?

 

A: Der Scanner digitalisiert Dein Buch auf einer sehr primitiven Stufe. In einem Raster von 300 Punkten pro Zoll—also etwa alle Zehntelsmillimeter—wird optisch überprüft, ob die Seite an diesem Punkt schwarz oder weiss ist. Das Resultat wird in einer sogenannten Bitmap festgehalten. Eine Bitmap ist eine digitalisierte Speicherform für Bilder. Die gescannte Buchseite ist also dem Computer als Haufen schwarzer und weisser Punkte bekannt und nicht als Folge von Buchstaben. Der Scanner produziert Bilder, nicht Texte.

Diese Bitmaps werden übrigens auch hergestellt, wenn Du einen Fax verschickst. Das Sendegerät scannt die Seite und übermittelt Signale, welche angeben, welche Punkte schwarz und welche weiss sind, per Modem über die Telefonleitung. Das Empfangsgerät demoduliert diese Signale und druckt die schwarzen Punkte der entzifferten Bitmap auf Papier. Wenn Du den Fax mit Deinem Faxmodem empfängst, landet die Bitmap einfach als Bilddatei in Deinem PC. Im Gegensatz dazu werden mit der elektronischen Post—auf Neudeutsch E-Mail genannt—echte vollwertige Textdaten verschickt. Die kannst Du in Deinem Word einlesen und modifizieren. Faxdaten und eingescannte Bilder von Buchseiten kannst Du höchsten noch etwas in der PaintBrush bearbeiten.

 

B: Aber alle reden doch von OCR…

 

A: Die sogenannte Zeichenerkennung—auf Englisch "Optical Character Recognition" und darum als Dreizeichenabkürzung für Insider :"OCR"—ist leider nicht so effektiv, wie man sich das wünscht. Ausser für spezialisierte Aufgaben, wo viel Zusatzinformation über Plazierung und Inhalt der Texte vorliegt, sind alle Versuche der automatischen Zeichenerkennung kläglich gescheitert.

 

B: Ich habe aber gerade gestern ein Inserat im c't gesehen, wo so ein OCR-Paket ganz günstig angeboten wird. Die können doch in so einem Inserat nicht lügen?

 

A: Das Inserat behauptet nur Existenz eines OCR-Programms und lügt insofern nicht, weil das Programm ja erhältlich ist. Es lügt aber leider doch, indem die meisten Käufer des Programms enttäuscht sein werden, weil es ihre Erwartungen an seine Funktionalität nicht erfüllt. Natürlich sind solche Programme fähig, gewisse Texte einigermassen zuverlässig einzulesen. Dabei muss man sich allerdings klar darüber sein, dass eine Erkennungsrate von 99% bedeutet, dass im Mittel alle zwei Zeilen eine Fehlerkennung stattfindet. Die meisten OCR-Programme sind sogenannte lernende Algorithmen. Das heisst, dass man nie genau überprüfen kann, ob sie das leisten, was sie zu leisten vorgeben, weil ihre Funktion nicht verständlich spezifiziert werden kann. Zudem verschiebt sich dadurch die Verantwortung für das Nichtfunktionieren zum Käufer des OCR-Programms, der es eben nicht richtig trainiert hat, wenn es nicht nach seinen Vorstellungen funktioniert.

 

B: Aber es ist doch völlig undenkbar, dass sich solche unbrauchbaren Programme auf dem Markt durchsetzen. Das käme ja einer gigantischen Verschwörung gleiche, bei der alle mitmachen. Hersteller, Rezensenten, Kunden tun alle so, als ob OCR funktioniert, dabei gibt es so was gar nicht. Ich glaube, da hast Du Dir trotz aller Sach- & Fachkenntnis einen Bären aufbinden lassen. Die Geschichte von des Kaisers neuen Kleidern ist doch nur ein Märchen! So etwas gibts doch nicht in unserer heutigen modernen, aufgeklärten, technisch fortschrittlichen Realität.

 

A: Ich würde das eher Selbsthypnose nennen als Verschwörung. Das Problem besteht einerseits darin, dass die Technik der Zeichenerkennung für Laien nicht schwieriger oder unerreichbarer wirkt, als andere Wunder der Informatik. Andererseits wäre eine funktionierende Zeichenerkennung ein dermassen grossartiger Fortschritt auf vielen Gebieten, dass allein der Druck der grossen Wünschbarkeit immer wieder finanzielle Mittel für solche Entwicklungen bereitstellt und nachher sogar noch den blinden Glauben an des Kaisers Kleider mitliefert.

Die heutige Computertechnik erinnert mich immer wieder an die Alchemie im Mittelalter. Gold machen schien damals nicht abwegiger als die chemischen Transformationen, die tatsächlich durchgeführt werden konnten. Die hohe Wünschbarkeit der Golderzeugung schaffte immer neue Mittel für ehrliche Chemiker und für Scharlatane. Die hohen Herren, die einmal viel in das Goldmachen investiert hatten, konnten sich nicht mehr eingestehen, dass sie sich irrten. Somit war es allgemein bekannt, dass das Goldmachen für die modernen fortschrittlichen Chemiker ganz einfach war. Die Scharlatane trugen zur Mystifizierung bei, indem sie immer kompliziertere Ingredienzen als notwendige Vorbedingung benötigten und so die Verantwortung am Misslingen auf den Kunden schoben, der diese nicht in der notwendigen Reinheit zu beschaffen wusste.

 

B: Wir leben aber doch nicht mehr im Mittelalter…

 

A: Lass mich eine letzte Bemerkung zum Thema OCR machen, bevor wir zur Frage der Digitalisierung der Welt zurückkehren. Wenn OCR wirklich funktionieren würde, wäre es doch sicher dort im Einsatz, wo mit grossem finanziellem Aufwand riesigste Dokumentenmengen verwaltet werden: bei den Patentabteilungen, in den Versicherungen, in den Standardisierungsbürokratien. Wenn diese Stellen, denen die Zeichenerkennung auch ökonomisch viel wert wäre, heute noch nicht auf OCR umgestellt haben, dann steckt in dem OCR-PC-Programm für 300 Franken doch irgendwo der Wurm.

 

B: Um auf die gescannten Bücher zurückzukommen: Sind die nun analog oder digital?

 

A: Wenn man sich das genau überlegt, ist ja jeder Datenträger, den wir kennen, ein analoger Datenträger, wo die Information kontinuierlich gespeichert ist. Das gilt etwa für gedruckte Bücher, wo die Buchstaben als analoge Bilder von Zeichen gespeichert sind, das gilt aber auch für Deine CD, wo natürlich nicht jede Grube identisch mit jeder anderen Grube ist. In dem Sinne findet bei jedem Aufzeichnungs- und Lesevorgang von digitaler Information eine Modulation/Demodulation statt. Bücher sind nun allerdings auf das Auge als Lesemedium optimiert. Der Demodulationsschritt findet im Gehirn statt, wo in einem ersten Demodulationsschritt die optischen Eindrücke mit Zeichen indentifiziert werden , wo darauf Zeichenketten bei uns im Deutschen als Notation der Laute in Laute verwandelt werden, wo darauf diese Laute in einem zweiten Demodulationsschritt mit Wörtern und Sätzen in unserer Sprache identifiziert werden. Die Beziehung von erkannter Sprache und Wahrnehmen und Denken überlassen wir lieber den Philosophen.

 

B: Also enthalten Bücher doch digitale Information.

 

A: Ja, man kann sagen, dass Bücher das älteste digitale Speichermedium darstellen. Der Erfolg des digitalen Mediums lässt sich an der Bedeutung des geschriebenen Worts für unsere Kultur ablesen. Es ist etwas traurig und gleichzeitig verwunderlich, dass Leute, die das Buch für ein wichtiges Kulturgut halten, heute einen sehr grossen Widerstand gegen alles Digitale mobilisieren, wo neben der Sprache auch das Bild, der Ton und die Bildsequenz der digitalen Verarbeitung zugänglich werden.

 

B: Aber dass die digitalen Bilder und Schallplatten wirklich nicht an die Qualität der analogen Wiedergabe herankommen kann doch niemand bestreiten. Wenn man die gezackten Ränder digitaler Bilder sieht, muss man doch froh darum sein, wenn sich noch jemand gegen die Tendenz zur totalen Digitalisierung einsetzt.

 

A: Im Gegensatz zur Zeichenerkennung ist die Vermeidung des Aliasing beim digitalen Vergrössern technisch ziemlich einfach. Auch die kuriosen Moiré-Effekte, die wir während des Golfkriegs in der NZZ bei Fotos vorfanden, die auf digitalisierten Fernsehbildern basierten, sind nur Ausdruck der Tatsache, dass noch nicht alle mit digitalisierten Bildern umzugehen wissen. Vor zehn Jahren glaubte man, dass man auf Computern keine brauchbare Typographie erzeugen könne, da alle Computer-Printouts auf grüngestreiftem Papier in Grossbuchstaben daherkamen. In ein paar Jahren werden sich die Leute mit digitalen Bildern heutiger Qualität ebensowenig zufrieden geben, wie sie heute die Computertypographie der ersten Stunde verwerfen.

 

B: Heisst das denn, dass man zwischen digitaler und analoger Information gar nicht unterscheiden kann, wenn nur genügend intelligente Algorithmen verwendet werden?

 

A: Der tieferliegende Unterschied zwischen digitaler und analoger Information ist gar nicht so leicht zu charakterisieren. Alle Information, ob analog oder digital ist auf physikalischen Trägern gespeichert. Das sind grundsätzlich Träger analoger, kontinuierlicher Signale, wenn wir einmal von quantenmechanischen Komplikationen absehen. Alle dem Menschen nützliche Information wird spätestens im Gehirn demoduliert und passiert mindestens ein digitales Zwischenstadium. Ob die endgültige Verarbeitung von Information im Gehirn digitalen Charakter hat, überlassen wir als Forschungsprojekt den Neuro- & Psychologen. Der Sprache als Hauptausdruck des Denkens ist der digitale Charakter jedenfalls nicht abzusprechen.

 

B: Was macht dann die digitale Information aus? Wie erkennt man sie? Wohin führt die Digitalisierung der Welt unsere Kultur?

 

A: Die hervorstechendste Eigenschaft digitaler Information ist ihre Wandlungsfähigkeit. Derselbe Informationsinhalt kann in die verschiedensten Kodes und Speicherformen verwandelt werden, ohne dass dabei Information verloren geht. Die Verlustlosigkeit wird bewiesen, indem man etwa beim Kopieren einer Diskette die kopierten Bits mit denen des Originals vergleicht. Es ist völlig unvorstellbar, dass man die Kopie eines 35mm Films "verifizieren" kann, da keine Bits vorhanden sind, die man vergleichen kann. Die Filmkopie, die analoge Fotokopie, die analoge Kassettenkopie ist immer mit einem Kopierverlust behaftet. Darum ist es in der Analogtechnik so wichtig, ein Minimum von Kopiergenerationen zwischen Original und Reproduktion zu haben. digitalen Kopien—etwa einer Musik Compact Disk (CD) auf ein Digitales Audio Tape (DAT)—ist die Anzahl der Generationen irrelevant. Die Kopie ist so gut, wie das Original.

 

B: Ist also das Charakteristikum für Digitales, dass es in diskreten Einheiten kodiert ist, während analoge Information kontinuierlich gespeichert ist.

 

A: Das kommt der Sache ziemlich nahe. Ich würde aber eher mit dem Begriff der Ähnlichkeit operieren. Bei analogen Kopien wird eine physikalische Ähnlichkeit hergestellt. Der Ausschlag der Nadel auf der Langspielplatte ist proportional zur Lautstärke. Das Arrangement von Farbflächen auf der Fotographie ähnelt dem Arrangement der Farben des Urbilds. Das Wort "analog" deutet schon auf die Wichtigkeit der Ähnlichkeit bei dieser Speicherform hin. Bei digitaler Speicherung kann die Information in völlig andere Kodierungen übergeführt werden. Die Buchstaben der Schrift besitzen keinerlei Ähnlichkeit mit den Lauten, welche sie repräsentieren, sondern ihre Bedeutung beruht ausschliesslich auf Konvention. Dafür kann man fremde Alphabete, wie etwa das griechische oder kiryllische mit unseren Buchstaben "transliterieren", ohne dass ein Verlust an Informationsgehalt eintritt. Oder um ein Beispiel aus der modernen Computerei zu wählen: Die komprimierte Bilddatei besitzt keinerlei Ähnlichkeit mit ihrem Original. Dass es sich trotzdem um eine transformierte "Kopie" des Originals handelt, beweist man, indem man die Rücktransformation durchführt, und überprüft, dass das dekomprimierte Resultat bitidentisch mit dem Original ist.

 

B: Man könnte also sagen, dass Information im digitalen Zeitalter einen neuen Aggregatszustand annimmt, dass sie weniger sperrig, vielgestaltiger, umkodierbarer, leichter kopierbar, formbarer, anonymer, flüssiger geworden ist?

 

A: So neu ist das alles natürlich nicht. Die gedruckte Information hatte diese Eigenschaften schon seit langem. Mit der Digitalisierung sämtlicher Informationsformen hat vor allem die visuelle und die akustische Information einen riesigen Sprung vorwärts gemacht, was Flüssigkeit, Vielgestaltigkeit und Formbarkeit betrifft. Möglicherweise entwickeln sich für Bilder und Geräusche neue Sprachspiele mit neuer Syntax, da diese Kommunikationsformen momentan im Begriff sind, die Herrschaft der Ähnlichkeit abzuschütteln. Die neue Beweglichkeit, Transformierbarkeit, Malleabilität und Polytropie von Information führt dazu, dass man fast überall fast alles wissen kann und dass sich Übermittlungszeiten auf nahezu Null reduziert haben. Mit dem Risiko der totalen Überwachung haben wir neu den Kampf gegen die Informationsumweltverschmutzung geerbt. Die Informationsüberflutung hat die Geheimdienste der Welt von Informationsbeschaffungsbehörden in Informationsfiltrierungsstellen verwandelt. Die Aufmerksamkeit verschiebt sich von der Quantität an Information zur Qualität der Information. Noch nie war das Risiko unbefugter Kopien so gross wie heute, noch nie konnte andererseits eine Information von jedermann mittels Verschlüsselung dermassen perfekt gegen unbefugten Zugriff geschützt werden wie heute.

 

B: Die neuen Medien bringen also neue Verhaltensweisen mit sich. Die Informationsabwehr ist ein Begleiter der Verbreitung des Telefax. Wo früher renommierte Unternehmen ihren Ehrgeiz darein setzten, dass am Telefon niemand länger als drei Klingelsignale warten muss, schotten sie sich heute mit labyrinthischen digitalen Telefonumleitungsmaschinerien von ihren Kommunikationspartnern ab. Briefe, Faxe und E-Mail werden nicht unbedingt beantwortet, am Briefkasten klebt ein Sticker, der unadressierte Werbe- und Informationsbroschüren in den Bitabfall umleitet. Während früher für den Zugang zu Information bezahlt werden musste, lassen sich findige Kommunikatoren heute Techniken einfallen, wie man die Masse dazu bringen kann, dass sie—notfalls gegen Bezahlung—Informationen zu Kenntnis nimmt.

 

A: Da wir in allen diesen neuen Sozialtechniken des Umgangs mit der Informationsflut noch nicht sehr viel Erfahrung haben, fühlt sich das für uns immer wieder sehr wie eine verkehrte Welt an. Ich nehme an, dass die Erwachsenen von morgen mit einer Selbstverständlichkeit mit diesen neuen Gegebenheiten umgehen werden, wie wir mit dem Telefonapparat. Die digitale Kultur wird ebensowenig das Ende der Kultur sein, wie der Buchdruck das Ende der Kultur war. Der Herrschaft mittels Aggregierung digitaler Datensammlungen wird die Privatsphäre mittels Public-key-Verschlüsselung entgegengesetzt werden. Eine jammernde Verweigerung der "Humanisten" gegen die "Technokraten" kann kurzfristig die Gefahren steigern, vor denen uns dieselben Vertreter warnen, die Entwicklung wird jedoch auf keine Art rückgängig gemacht werden können.

 

B: Die Zukunft der Vinyl-Langspielplatte ist also das Museum.

 

 

21. Juni 1994 Hartwig Thomas