Ansprache zur Vernissage

der Ausstellung

Unentwegt Bewegt

mit Bildern von

Anne Smith

am 24. Januar 2004

in der Galerie Rue' 50 in Basel

 

[Sarah's Surprise]

 

Sie hörten soeben die Überraschung für Anne Smith von Sarah van Cornewal. Nun beginne ich meine angekündigte Begrüssungsansprache zur Vernissage. Sarah wird diese an ver­schie­denen Stellen mit weiteren Darbietungen ergänzen.

 

Als mich Anne fragte, ob ich eine Ansprache für die heutige Ausstellung halten würde, sagte ich gerne zu.

 

Ich kenne Anne und ihre Bilder gut, habe die meisten während Ihrer Entstehung begleitet, und schätze ihre Qualität.

 

Als Mathematiker und Computerfachmann bin ich bezüglich Kunsteinführungen nicht vom Fach. Meine Fähigkeit, Bilder anzuschauen habe ich an Hunderttausenden von Comics-Panels geschult. Dies und mein naturwissenschaftlicher Hintergrund veranlasst mich dazu, manchmal Dinge über Kunst zu sagen, die für Fachleute tabu sind.

 

Der Zweck einer einführenden Ansprache in einer Vernissage kann wohl nur der sein, den Anwesenden die ausgestellten Bilder etwas näher zu bringen. Damit muss ich schon aus gegebenem Anlass das erste verbreitete Tabu von Vernissagebesuchern brechen. Bilder im Allgemeinen und diejenigen von Anne Smith im Speziellen sind nach meiner Ansicht nicht nur subjektiv auf emotioneller Ebene erlebbar. Die Künstlerin hat sich bewusst entschlossen, mehrere Tage oder Wochen damit zu verbringen, etwas darzustellen. Dass bei diesem Entschluss Emotionen mitspielen und allenfalls auch Emotionen mitgeteilt werden, ist unbestritten. Ebenso unbestritten ist aber auch, dass das Malen eines Bildes ohne Gedanken und bewusste Entscheidungen unmöglich ist, und, dass Gedanken und Überlegungen ebensogut im Bilde mitgeteilt werden können, wie Emotionen. Es ist daher möglich, darüber zu reden, was in Gemälden mitgeteilt wird. Man darf darüber reden, wie man ein Bild versteht. Die Malerin kann ihr Vorhaben mit mehr oder weniger Erfolg realisiert haben. Der Betrachter kann mit mehr oder weniger Erfolg die Mitteilung entziffert haben. Nur darum kann ich in dieser Ansprache überhaupt eine Einführung in die ausgestellten Bilder geben.

 

Als ich erfuhr, dass die Eröffnung am 24. Januar stattfindet, war meine erste Reaktion, dass es sich um den Geburtstag von E.T.A. Hoffmann handelt, der vor 228 Jahren (1776) in Königsberg zur Welt kam. Diese Reminiszenz ist in mehrfacher Weise für diese Ausstellung relevant. Wie E.T.A. Hoffmann ursprünglich eine Ausbildung als Jurist absolvierte und danach als Maler, Musiker und Jurist tätig war, bevor er relativ spät in seinem Leben mit seiner Schriftstellerei an die Öffentlichkeit trat, so erlangte Anne Smith zuerst ihr Diplom für Alte Musik an der Schola Cantorum Basiliensis, wo sie heute noch als Musikerin tätig ist. Ausserdem betätigt sie sich als Übersetzerin, Verwaltungsratspräsidentin einer Computerfirma, Alexander-Lehrerin und Organisatorin von Renaissanceflötenkongressen neben ihrer Tätigkeit als Malerin, die sie erst relativ spät in ihrem Leben aufnahm. Diese Tätigkeit als Malerin nimmt allerdings heute einen substanziellen Teil ihrer Zeit in Anspruch. Auf die Zeit Hoffmanns geht das eben erwähnte Tabu zurück, dass man Malerei oder Musik auf keinen Fall mit dem Verstand rezipieren darf. Der Verabsolutierung dieses Tabus im Avantgardismus des zwanzigsten Jahrhunderts wäre Hoffmann wohl eher verständnislos gegenübergestanden. Es lohnt sich jedenfalls, seine Werke nicht nur romantisch emotionell, sondern auch mit dem Verstand aufzunehmen. Dies lohnt sich auch bei den Bildern von Anne Smith, die ausserdem bezüglich ihres Inhalts eine Verwandtschaft mit Hoffmanns Werk aufweisen. Wie bei Hoffmann werden von Ihr Vorstellungen von der Aussenwelt gegenständlich so dargestellt, dass man sie mit der Realität verwechseln könnte.

 

Ein Nebeneffekt der gegenständlichen Darstellungen mit traditionellen Ölfarben besteht darin, dass weder Betrachter noch Künstlerin sich in die Unverbindlichkeit der Einfühlung in abstrakte Linien und Kleckse oder in die Verabsolutierung der Techniken flüchten können. Wenn die Gemälde von Anne Smith nicht so gegenständlich, ihre Titel nicht so mehrschichtig wären, würde uns bei ihrer Betrachtung nicht immer wieder so ungemütlich zumute - wie übrigens auch bei der Lektüre mancher Erzählungen von E.T.A. Hoffmann. Wenn man diese Bilder betrachtet, wird man mit schrecklich fremden, manchmal fröhlichen, machmal grausamen, manchmal bösen Ideen konfrontiert. Erst mit der Wahrnehmung des Fremden beginnt allerdings jede Kommunikation - auch diejenige der Kunst. Wo die Kunstbetrachtung nur den Zweck hat, die eigene Seele in ein Mitschwingen zu versetzen, findet keine Kommunikation statt und der Kunstbetrieb erstarrt im Narzissmus. Anne Smith ebnet den Betrachtern den Zugang, indem ihre Darstellung oft humoristisch, distanziert von Schrecknissen berichtet, deren Bedrohlichkeit schon dank der Mitteilung gebannt scheint. Wenn man sich auf die Fremdheit des Mitgeteilten einlässt, löst sich das Unbehagen des ersten Blicks im zunehmendem Verstehen auf. Man kann Rechenschaft darüber ablegen, warum man sich mit einem solchen Bild im Wohnzimmer nicht wohl fühlen würde. In einer Ausstellung wie der heutigen kommt man in den Genuss einer anregenden Konfrontation mit neuen Ideen.

 

Die heute eröffnete Ausstellung enthält ausschliesslich Bilder, die noch nie in Basel gezeigt wurden. Sie stammen alle aus der Zeitspanne der letzten fünf Jahre. Wie schon ihre früheren Bilder kreisen viele der ausgestellten Bilder um die Bewegung, welche der Ausstellung ihren Titel gibt. Konkret geht es um die Bewegung des menschlichen Körpers, der menschlichen Glieder. Diese ist sozusagen die Schnittstelle zwischen Körper und Gedankenwelt, da sie über Gedanken in Gang gesetzt wird. Die Beziehung zwischen den Gedanken und den Hand­lungen, den Bewegungen des Körpers, ist das zentrale Thema der Alexander-Technik, mit der sich Anne Smith lange Jahre auseinandergesetzt hat. Sie stellt auch den Kern der Frage nach der Entscheidungsfreiheit dar, wie der in Berlin lehrende Schweizer Philosoph Peter Bieri aufgezeigt hat. Für aufführende Musiker stellen sich die Fragen nach der Bewegung und ihrer Beziehung zu den Gedanken in der Praxis natürlich täglich.

 

Um die Bewegung und somit die Beziehung zwischen Körper und Geist genauer zu verstehen, hat sich Anne Smith zum einen lange und ausführlich mit Anatomie beschäftigt. Der menschliche Bewegungsapparat bestimmt, was an Bewegung überhaupt möglich ist. Bei jedem Menschen besteht eine gewisse Diskrepanz zwischen seiner Anatomie und seinen Vorstellungen von ihr. Die Vorstellung, die man von seinem eigenen Körper und seiner (moralischen und physikalischen) Beschaffenheit hat, bestimmt wesentlich mit, welche Bewegungen uns möglich sind. Zum anderen beschäftigen sich daher viele Bilder von Anne Smith mit den Vorstellungen, die wir uns von unserem Körper und seinen Möglichkeiten machen. Auch wenn ihre Bilder in die Kategorie „gegenständliche Kunst“ gehören, sieht sich der Betrachter oft der Gefahr ausgesetzt, die dargestellten Vorstellungen von Gegenständen mit diesen selbst zu verwechseln. Subtile Unmöglichkeiten deuten oft an, dass nicht die Aussenwelt, sondern ihr Innenbild dargestellt wird.

 

Bevor ich nun auf einzelne Bilder zu sprechen komme, spielt Sarah van Cornewal ein Stück für zwei Flöten.

 

[Sarah two flutes]

 

Sehen wir uns nun das Bild Magic Flute, welches schon auf der Einladung abgebildet war, unter dem Aspekt der Bewegung näher an. Man sieht darauf eine Flötenspielerin nackt von hinten, wie sie auf einer Renaissanceflöte spielt. Aus der Wirbelsäule entschlüpft dem Körper eine Schlange, die sich ondulierend bewegt, wie es der inneren Wahrnehmung der idealen Bewegung der frei beweglichen Wirbelsäule beim Spielen entspricht. Die Flötenspielerin scheint die Schlange zu beschwören, welche wie die Schmetterlinge dem Spiel entsprungen zu sein scheint und ihm zuhört. Die Darstellung des Körpers der professionellen Flötistin wirkt distanziert, objektiv. Es ist natürlich jedem Betrachter unbenommen, seine eigene metaphorische Bedeutung in das Gemälde zu interpretieren. Ich denke aber, dass es der Malerin vor allem um die Vorstellung der Bewegung des Rückgrats ging, und, dass sie versuchte, die meisten naheliegenden Metaphern zu vermeiden.

 

Seit Platons Sokrates behauptet eine führende Schule von Kunstinterpreten, dass die Künstler keine Ahnung von ihrem Produkt haben. Gemäss dieser Auffassung werden sie von einem überirdischen Enthusiasmus geschüttelt und sind nur hirnlose Ausführer des göttlichen Willens. Diese Ansicht eignet sich hervorragend, um die von C.P. Snow für das 20. Jahrhundert diagnostizierte Trennung der zwei Welten unserer geistgen Kultur aufrecht zu erhalten.

 

Die Konsequenz dieser Spaltung sieht folgendermassen aus: Geisteswissenschaftler brauchen nichts mit dem Verstand zu verstehen, da ihr Untersuchungsgegenstand nur über den Enthusiasmus wahrnehmbar ist. Künstler und Geisteswissenschaftler sind stolz darauf, möglichst wenig von Naturwissenschaft zu verstehen. Die von Ihnen behandelten Inhalte haben daher auch keinen Bezug zu naturwissenschaftlichen Erkenntnissen. Die genaue wissenschaftliche, reflektierte Darstellung der Welt wird verschrien als Entzauberung, welche die Welt ihrer Schönheit beraubt. Schönheit kann gemäss dieser Theorie nur ohne Gebrauch des Verstandes wahrgenommen werden.

 

Naturwissenschaftler auf der anderen Seite interessieren sich immer weniger für Kunst und die Produkte der Geisteswissenschaftler, da diese immer weniger mit der Welt zu tun haben, die sie untersuchen. Der Avantgardismus hat die Kunst immer mehr zu einer esoterischen Wissenschaft des Eingeweihtseins gemacht, die normalen Sterblichen verschlossen bleibt, wenn sie es nicht „richtig“ fühlen. Wer besucht schon gern eine Vernissage und deklariert sich als emotionell debil, indem er zugibt, dass er ein Bild nicht versteht? Konsequenterweise flüchten sich daher Vernissagebesucher gerne in den Subjektivismus, und deuten vielsagend an, dass ein Bild mit ihren Gefühlen kommuniziert, ohne sich explizit auf ein Gespräch darüber einzulassen, was sie gesehen haben.

 

Da ich selber Naturwissenschaftler bin, gehe ich davon aus, dass die Künstlerin sich beim Verfertigen ihrer Bilder durchaus etwas gedacht hat, und, dass diese Ideen oft auch viel damit zu tun haben, was in einem Bild steckt. Die Bildtitel sind oft bewusst mit Wortspielen überladen, und signalisieren, dass man bei der Betrachtund der Bilder nicht nur zu fühlen braucht, sondern auch denken darf. So weist etwa der Titel des Bilds Depression nicht nur auf einen Seelenzustand hin, da das englische Wort ja auch Herunterdrücken, Tiefdruckgebiet und Wirtschaftskrise bedeutet. Beim Interpretieren von Bildern ist es also oft hilfreich und durchaus erlaubt, die Malerin zu fragen, was sie zum Malen des Bildes veranlasst hat. Im Normalfall wird sie gerne ausführlich Auskunft geben. Da sie nebenberuflich Verwaltungsratspräsidentin meiner Computerfirma Enter AG ist, kann man das Bild Depression getrost als Darstellung der wirtschaftlichen Misere dieser Firma in den letzten Monaten lesen. Auch hier ist natürlich ein Innenbild der Aussenwelt dargestellt.

 

Wie auf das Bild Magic Flute möchte ich später noch kurz und exemplarisch auf drei weitere Bilder eingehen. Sarah van Cornewal wird uns vor jedem der drei Bilder eine musikalische Bagatelle für Tenorblockflöte von Stefan Thomas spielen, und so auf ihre Weise diese Ausstellung bereichern.

 

 

Als erstes spielt nun Sarah van Cornewal vor dem Bild Hadlaubstrasse Interior die erste Bagatelle Agitato.

 

[Sarah Bagatelle Agitato]

 

In diesem Bild sieht man eine Ecke des Wohnzimmers von Anne Smith. Bei diesem Bild fällt eine Gemeinsamkeit mit den meisten Porträts auf. Im Gegensatz zu den meisten anderen Bildern enthält es keinen visuell oder im Titel signalisierten doppelten Boden. Das Gemälde erweckt den Eindruck von einfacher Ruhe und Frieden, wenn auch etwas Reflexion in der Fensterscheibe aufblitzt, durch welche die grüne Aussenwelt sichtbar ist. Technisch stellt sich dieses Bild allen möglichen Herausforderungen der gegenständlichen Kunst: Perspektive, Schattenwurf, Oberflächenstruktur, Reflexion und die organischen Farbeindrücke von aussen werden gemeistert.

 

Anne Smith hat als Malerin nie eine Ausbildung genossen. Sie malte als Kind mit den Ölfarben, die sie von ihrer kalifornischen, malenden Grossmutter Edith Osborne, einer Schülerin von Robert Henry, geerbt hatte. Mit vierzig trat sie in die Fusstapfen dieser Grossmutter und fing an, grosse Ölgemälde zu malen. Im Gegensatz zu vielen ihrer Mitmenschen besass sie damals kein visuelles Vorstellungs­vermögen und konnte nur malen, was sie sah. Durch genaues Abbilden des Gesehenen kam sie lange Zeit ohne tiefere Kenntnis der Gesetze der Perspektive und mit bescheidenen technischen Mitteln aus. Im Laufe der Zeit stellte sich die Fähigkeit ein, etwas nach der Vorstellung zu malen, und sie erwarb die technischen Kenntnisse der gegenständlichen Darstellung.

 

Wenn die Gemälde von Anne Smith oft das Innenbild der Aussenwelt darstellen, scheint bei dieser Darstellung des vertrauten Blicks in ihrem Zuhause beides zu verschmelzen.

 

 

Als nächstes spielt nun Sarah van Cornewal vor dem Bild Balancing Act die zweite Bagatelle Ambivalente:

 

[Sarah: Bagatelle Ambivalente]

 

In diesem ambivalenten Bild sitzt eine Frau auf dem Rücken einer anderen. Die Trägerin der schweren Bürde hat ihr Gesicht abgewendet. Das Gesicht der anderen Figur passte nicht mehr ins Bild. Wenn man in Betracht zieht, dass einige der Bilder von Anne Smith um das Thema Kindsmissbrauch kreisen, wie etwa im Bild Poulet angedeutet ist, kann man den Balanceakt als Balance der Geschlechter deuten. Wenn man die Künstlerin direkt fragt, erhält man die Auskunft, dass sie bei der Konzeption an die Beziehung von Mutter und Tochter dachte. Sitzt da die Tochter auf dem Rücken der Mutter? Oder, da das Haar der unteren Figur eher auf eine Selbstdarstellung schliessen lässt, trägt hier eine Tochter an der Bürde der gesichtslosen Mutter? Handelt es sich um einen Kommentar zum Thema Our Mothers, Ourselves? Der Haltung der oberen Figur entnehme ich, dass diese nicht ihrerseits eine weitere Person auf dem Rücken trägt. Es geht also um die konkrete Beziehung zur eigenen Mutter und nicht um einen allgemeinen Kommentar zur langen Kette der Geschlechter. Der Körper der Mutter scheint eher gleich alt wie derjenige der Tochter. Es handelt sich also um das Innenbild der im eigenen Ich herumgetragenen Mutter.

 

Dieses Bild ist wie fast alle Bilder von Anne Smith gerahmt. Der Rahmen isoliert die Darstellung von der Realität. Moderne avantgardistische Maler blicken auf gerahmte Bilder mit amüsierter Verachtung herab. Die Arbeiten von Anne Smith ecken auch in dieser Beziehung beim modernen Kunstschaffen überall an.

 

 

Als Einstmmung auf das letzte von mir exemplarisch besprochene Bild spielt Sarah van Cornewal vor dem Bild Serious Discussion on Balcony with Bird die dritte Bagatelle Scherzando.

 

[Sarah: Bagatelle Scherzando]

 

Ich kann mich gut an Teile der Entstehung dieses Bildes erinnern. Annes Skelette waren von einigen Betrachtern als morbid empfunden worden, weil das Skelett in unserer Kultur für den Tod steht. Anne hat sich immer wieder einmal vorgenommen, keine Skelette mehr zu malen. Der Ursprung der ernsthaften Diskussion der Skelette auf dem Balkon entsprang wohl dem Wunsch, Skelette nicht immer nur von vorne und von hinten, sondern auch mal von der Seite zu malen. Ausserdem sollten sie unmorbid lebendig, vielleicht am Wasser dargestellt werden. Es sollte sichtbar werden, dass es sich um die Darstellung der Anatomie lebender Menschen handelt. Beim Ausspinnen dieser Idee beobachteten wir in einem Kaffee in Basel am Rhein ein paar Spatzen. Daraus entwickelte sich die Idee des Vogelskeletts. Sicher würde jeder Betrachter einsehen, dass ein toter Vogel nicht fliegt, und dass somit ein fliegendes Vogel­skelett einen lebenden Vogel darstellt, der sozusagen mit Superwomans Röntgenaugen betrachtet wird.

 

Die dargestellten Skelette stellen weder die Malerin selber noch medizinische Modelle dar. Vielmehr machte sie im Büro einer Computerfirme Fotografien von diskutierenden Bekannten und reduzierte diese im Bild auf ihr Skelett. Die Bürostühle und der gläserne Tisch, an welcher die Diskussion stattgefunden hatte, blieben erhalten.

 

Die Szene wurde wegen des Vogels ins Freie verlegt - vielleicht wegen der einfachen Verfügbarkeit des Vorbilds - auf den Balkon der Wohnung der Malerin.

 

Anne Smith hat einen uneuropäischen Umgang mit Farben. Dieser wird in diesem Bild besonders deutlich, wo jeder Blinde sehen kann, dass sich das Grün der IKEA-Stühle nicht mit dem Grün des Weinlaubs verträgt.

 

Die Malerin spielt in diesem Gemälde auf vielerlei Art mit dem Thema der Transparenz. Man sieht den Menschen und Vögeln durchs Fleisch auf die Knochen. Man sieht sogar durch den gläsernen Tisch auf die Knochen. Die Bewegung der Anatomie wie die Gestik des Denkens, welches die Bewegung auslöst, sind humorvoll und präzis eingefangen.

 

Das Bild stellt wie alle Bilder die Oberfläche der Dinge dar. Diese einfache Tatsache erweist sich aber schon bei der Betrachtung der Tischoberfläche als mehrschichtig. Es gibt transparente Oberflächen, welche den Blick auf dahinterliegende Oberflächen freigeben, diesen aber gleichzeitig beeinflussen. Eigentlich sehen wir nur die intransparenten Oberflächen. Wenn Fleisch transparent wäre, würden wir Skelette sehen. Warum haben wir und daran gewöhnt, bei der Hautoberfläche von Schönheit zu reden und zu schaudern, wenn wir mit der Schönheit der Knochenoberfläche konfrontiert sind?

 

Hiermit bin ich am Ende der exemplarischen Bildbeschreibungen, mit denen ich Ihnen den Zugang zu den ausgestellten Bildern etwas ebnen wollte.

 

 

Die heutige musikalische Umrahmung der Ausstellung wird fortgesetzt, indem in diesem Raum an jedem Abend der nächsten Woche ein Konzert stattfindet. Viele Musikerkollegen und –freunde haben spontan zugesagt, als Anne sie anfragte, ob sie in der Galerie Rue’ 50 ein Konzert geben würden. Selbst wenn Sie heute alle Bilder von Anne Smith angeschaut haben, lohnt sich für Sie der Besuch des einen oder anderen dieser Konzerte.

 

Zum Abschluss möchte ich auch im Namen der Malerin allen Anwesenden danken für ihren Besuch, den Betreibern der Rue’ 50 für die unkomplizierte Möglichkeit, hier solche Events zu organisieren, sowie den Musikern, die mit ihren Konzerten im Laufe der Woche die Ausstellung beleben.

 

Ich danke den Anwesenden für Ihre Geduld beim Zuhören und wünsche Ihnen eine angeregte Auseinandersetzung mit den Bildern von Anne Smith.

 

Schliesslich komme ich zu einer Gratulation. Am 24. Januar hatte nicht nur E.T.A. Hoffmann Geburtstag. Exakt 199 Jahre nach ihm kam Sarah van Cornewall zur Welt, deren Konzert sie eben gehört haben. Wir gratulieren ihr zum Geburtstag und überreichen ihr zu diesem Anlass einen Geburtstagskuchen und laden die Anwesenden ein, mitzuhalten.

 

23.1.2004        Hartwig Thomas